150 Jahre Continental: Dreck, Licht und lange Schatten

Continental verdiente Geld, wo es wehtut. 150 Jahre später ist der Konzern so modern wie nie. Fehler von früher und dunkle Wolken von morgen gilt es anzugehen.

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Mercedes W115

Continentals selbstfahrender Reifentestwagen von 1968 auf Basis eines Mercedes W115

(Bild: Continental)

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Christian Domke Seidel
Inhaltsverzeichnis

Überall stinkt es nach Pferdeurin. Es ist zu laut, weil die Viecher samt der Kutsche auf den Pflastersteinen einen Höllenlärm veranstalten. Continental liefert Hufpuffer und Vollgummireifen für Kutschen. Überall in der Landwirtschaft buckeln Menschen unter Schmerzen in Knochenjobs. Continental liefert Knieschoner für Feldarbeiter, Reifen für Traktoren und Antriebsriemen für Landmaschinen. Überall explodieren Bomben und Menschen krepieren im Namen des Wahnsinns. Continental liefert Stiefelsohlen und Gasmasken – auf den Tod getestet und für gut befunden.

Dieser Text wird keinen Spaß machen. Denn es geht um das 150-jährige Jubiläum von Continental. Die Firma wurde groß, weil sie den Menschen das Leben weniger schmerzhaft und sauberer machte. Dafür musste sie dort sein, forschen und entwickeln, wo es dreckig ist und weh tut. Als sich die Nazis aufschwangen einen Planeten ins Verderben zu stürzen, war Continental erst vorne mit dabei und verzichtete später lange Zeit darauf, über dieses dunkle Kapitel zu sprechen. Jetzt soll vieles anders werden. Längst nicht alles.

Continental ist heute vor allem als Reifenhersteller bekannt. Doch der Konzern ist so viel innovativer als das. Längst wurden aus den Knieschonern und Antriebsriemen Bauteile für Drohnen und Feldroboter, LIDAR-Sensoren und Datenanalyse-Tools. Landwirtschaft 4.0 nennt Continental seine digitalisierte Feldarbeit. In Gruben und Baustellen überwachen Continental-Sensoren den Zustand der Maschinen. An deren Vernetzung arbeitet das Unternehmen gerade. Hufpuffer gibt es immer noch.

Sie waren einer der wirtschaftlichen Eckpfeiler von Continental. Mit ihnen haben Pferde bei auf Eis und Schnee einen besseren Halt. Dazu kamen Regenmäntel und Thermosflaschen, Fahrrad- und Kutschenreifen. Know-how war da, weil die "Continental-Caoutchouc- und Gutta-Percha Compagnie" am 8. Oktober 1871 auf den Resten der "Neue Hannoversche Gummi-Warenfabrik" gegründet wurde. Die hatte Bankier Moritz Magnus erstanden und dann mit neun Investoren finanziell aufgepäppelt.

Daraus wird im Laufe der Geschichte einer der weltweit größten Automobilzulieferer. Ein Erfolg, der auf mehreren Säulen ruht. Eine der ersten ist die Landwirtschaft. Für die fertigte Continental Gummiringe, mit denen Milchkannen luftdicht verschlossen werden konnten. Eine kleine Sensation. Plötzlich war die verderbliche Ware viel länger halt- und transportierbar.

Im Jahr 1917 kam der erste Traktor auf den Markt, der als Vorfahr der heutigen Modelle verstanden werden kann. Erfunden hatte ihn Henry Ford. Das Problem war, dass die Maschinen umständlich zu bedienen waren, weil zwischen dem Betrieb auf dem Feld und dem auf Straße immer die Räder gewechselt werden mussten. 1928 erfand Continental allerdings den Ackerschlepper-Reifen. Ein Luftreifen, der der auf jedem Untergrund verwendet werden kann.

In der Landwirtschaft lieferte Continental beinahe im Jahrestakt Innovationen ab. Die Arbeit wurde leichter, schneller und effizienter. Die Antriebsriemen der Marke waren gleichzeitig leichter und robuster als die der Konkurrenz und die Steilfördergurte deutlich belastbarer. Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel der Landwirtschaft eine Schlüsselrolle zu. Die Menschen brauchten Nahrung und Arbeit. Im Jahr 1950 gab es in der Bundesrepublik 140.000 Traktoren, 1963 waren es bereits über eine Million. Von Continental kamen nicht nur deren Reifen, sondern auch Spezialschläuche für Dreschmaschinen, Tankschläuche, Antriebsriemen in Pumpen und Sägen.

Der zweite Erfolgsgarant für Continental ist die Bauwirtschaft. Hier waren neben Fördergurten, Reifen und Schwingungsdämpfern aus Kautschuk vor allem Schläuche gefragt. Continental wurde zum Spezialisten für druckfeste Schläuche, als Pneumatikschlauch etwa für Presslufthämmer und als Hydraulikschlauch für beispielsweise Baumaschinen, deren Entwicklung sehr von der Umstellung auf diese Art der Kraftübertragung profitierte.

150 Jahre Continental I (5 Bilder)

Im Jahr 1921 war die Reifenproduktion (hier im Continentalwerk in Hannover) noch eine Gruppenarbeit.

Auch dieser Bereich boomte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs natürlich. Ohne Continental wären das Wirtschaftswunder und der Wiederaufbau nur schwer vorstellbar gewesen. Monopol-Wasserschlauch, Zementpistolenschläuche, Wassersaug- und Druckschläuche – so unsexy und emotionslos es klingen mag, so essentiell sind diese Entwicklungen für die Bauwirtschaft.

In Summe ist Continental heute der viertgrößte Reifenhersteller der Welt. Hinter Bridgestone, Michelin und Goodyear. Der Grundstein dafür – und die dritte Säule des Konzerns – wird früh gelegt. Dank aufwendiger Forschung und Entwicklung ist Continental früh ein Innovationstreiber der Branche. Im Jahr 1904 lanciert das Unternehmen einen Luftreifen mit Profil. Vier Jahre später bringt es eine abnehmbare Felge auf den Markt. Die Marke wird zum Ausrüster von Opel – damals der größte Autohersteller des Landes.

Vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich Continental zu einem internationalen Konzern, bevor der Größenwahn einiger Politiker das globale Projekt zum Erliegen brachte. Im Jahr 1913 gingen 60 Prozent aller Waren von Continental ins Ausland. Ein "Exportweltmeister", lange bevor das Wort erfunden werden sollte.

Ganz im Geiste dieser Weltoffenheit kooperierte Continental nach dem Ersten Weltkrieg mit Goodrich. Eine Zusammenarbeit, die wegen des Krieges nicht stattfinden konnte. Die US-Amerikaner bekamen ein Viertel der Continental-Aktien und halfen dafür bei der Beschaffung der Rohstoffe. Außerdem teilten die Firmen ihre Forschungsergebnisse, sowohl was die Formeln für die Reifen als auch die Arbeitsweise betraf. Continental konnte viel im Bereich der Fließbandfertigung und der Qualitätsüberwachung lernen.

Im Zweiten Weltkrieg buhlt Continental skrupellos um die Gunst der deutschen Kriegstreiber. Das Management wirft Konkurrenten vor, nicht arisch genug zu sein. Dazu entwickelt die Firma von sich aus neue Produkte für die Soldaten. Tragriemen und Patronengurte aus Gummi, Verschlusskappen für die Geschütze ... das Regime belohnt Continental mit reichlich Aufträgen und den benötigten Zwangsarbeitern, die auch gleichzeitig zu Versuchskaninchen werden.

Einer der grausamsten Vorgänge sind die Testläufe für die Gummisohlen der Soldatenstiefel. KZ-Insassen aus Sachsenhausen müssen bei jedem Wetter und jeder Temperatur zu Todesmärschen antreten. Wer zusammenbricht, wird erschossen. Auf Werbebannern vor den Continentalwerken prangern Sprüche wie "Die Schaffenden dieses Betriebes kämpfen mit Adolf Hitler für den Weltfrieden". Das brutale Vorgehen gegen die Zwangsarbeiter in den Produktionshallen rechtfertigte ein damaliger Manager einmal mit den Worten "Wenn sie tot sind, gibt’s neue." Die Menschen wurden mit Vieh verglichen und so behandelt.

150 Jahre Continental II (5 Bilder)

Nach dem Zweiten Weltkrieg lag auch das Continental-Werk in Hannover in Trümmern.

Dass all das bekannt ist, verdankt die Öffentlichkeit Continental selbst. Das Unternehmen hatte eine Aufarbeitung seiner Nazi-Vergangenheit in Auftrag gegeben und nach deren Fertigstellung im Jahr 2020 veröffentlicht. Ganze vierzig, beziehungsweise dreißig Jahre nachdem Volkswagen, Bayer und Daimler ähnliche Studien veröffentlicht hatten.

Dazu kommt, dass Continental, wie die gesamte deutsche Wirtschaft, aus den Erkenntnissen aus dieser Zeit kaum Konsequenzen zieht. Jahrelang sträubte sich das Who-is-Who der deutschen Wirtschaft, Entschädigungen zu zahlen. Erst eine Sammelklage in den USA baute so viel Druck auf die Kriegsprofiteure auf, dass im Jahr 2000 die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" ins Leben gerufen wurde. Die deutsche Regierung und betroffene Unternehmen zahlten insgesamt 5,2 Milliarden Euro ein – überlebende KZ-Insassen bekamen 7600 Euro, Zwangsarbeiter 2500 Euro.

Continental hat wohl auch deswegen in diesem Jahr das Siegmund-Seligmann-Stipendium ausgerufen. Die Firma fördert damit Nachwuchs-Historiker, die sich mit der Unternehmensgeschichte beschäftigen wollen, mit insgesamt 50.000 Euro über zwei Jahre. Es ist ein erster Schritt.

Der Weg in die aktuelle Moderne begann für Continental in den 1990er-Jahren. In den Jahrzehnten zuvor verlor das Unternehmen zunehmend den Anschluss auf dem Reifenmarkt. Vor allem Michelin luchste dem Konzern dank überlegener Produkte schmerzhaft viele Marktanteile ab. Im Jahr 1995 gründete Continental daraufhin den Bereich Continental Automotive Systems (CAS) und entwickelte dort unter anderem Fahrassistenzsysteme, ESP und diverse Sensoren für Fahrzeuge. Durch Zukäufe machte die Continental AG die Sparte zu einer Cashcow. Höhepunkt war die Übernahme von Siemens VDO für 11,4 Milliarden Euro im Jahr 2007.

Für den Reifenhersteller ein Geschäftszweig mit Historie. Denn bereits im Jahr 1968 hatte Continental ein selbstfahrendes Auto vorgestellt. Damals hatten die Ingenieure einen Mercedes-Benz 250 Automatik (Baureihe W115 "Strich-Acht") mit elektro-mechanischer Lenkung, Gasregulierung und einer Funkeinrichtung für Messwert-Rückmeldungen ausgestattet. Sensoren im Auto erkannten das Magnetfeld eines Leitdrahts, der im Fahrbahnbelag verbaut war. In Zusammenarbeit mit den Technischen Universitäten München und Darmstadt hatte Continental damit auf der Teststrecke Contidrom in der Lüneburger Heide ein "Geisterauto" fahren lassen, wie es die Presse damals nannte.

Zu seinem 150-jährigen Jubiläum steht die Continental AG vor einem massiven Umbruch. Die Antriebstechnik-Sparte hat der Konzern ausgegliedert und als Vitesco an die Börse gebracht. Börsenwert nach dem ersten Handelstag: rund 2,5 Milliarden Euro. Dazu kommen deutlich schmerzhaftere Schritte. Von den weltweit rund 193.000 Mitarbeitern sollen sich 23.000 "verändern", wie es das Management ausdrückt.

Das bedeutet: Umschulung oder Arbeitslosigkeit. Werke werden geschlossen. Der Konzern bereitet sich auf eine Zeit vor, in der Verbrennungsmotoren eine immer kleinere Rolle spielen werden. "Transformation 2019-2029" nennt Continental seine Strategie und baut den Elektronik- und Software-Bereich aus. Selbst Reifen sollen mit Sensoren "smart" werden. Die Kürzungen, die Kündigungen, der Umbau. All das sei "sehr bitter", sagte Nikolai Setzer, Vorstandsvorsitzender der Continental AG, der Süddeutschen Zeitung. Aber Continental ist nun mal dort, wo es weh tut. Das war schon früher so.

(fpi)