Pantoffel-Voyeur

Es ist unfassbar, was Menschen machen, um für ein paar Sekunden berühmt zu sein. Von der Kaffeemaschine über den Cola-Automat bis hin zum Bergpanorama halten WebCams alle wesentlichen Dinge des Erdenlebens für die Weltöffentlichkeit fest.

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Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Torsten Beyer
  • Kersten Auel

Ich liebe das Internet. Es ist irgendwie so ähnlich wie Toyota - nichts ist unmöglich. Und ich würde hinzufügen, nichts ist zu dämlich. Mein momentaner Favorit auf der ‘Nicht-zu-fassen’-Liste sind WebCams.

Hibbeligen Lesern seien speziell die Büro-WebCams ans Herz gelegt. Die meisten lassen auf einen eher gemächlichen Arbeitsalltag schließen. Den ruhigsten scheinen die Mannen von Ping e.V. zu haben. Unter ‘Der Blick ins Vereinsbüro’ kann man sich das Dunkel ihrer Arbeit beschauen.

Attraktiv klingt auch der Blick in den Keller von Filstal Online, den es eine ganze Zeit gab. Scheint aber im Moment irgendwie unter Wasser zu stehen, der Keller. In jedem Fall hat die URL in den letzten paar Tagen nicht mehr funktioniert. Mein Rat: dranbleiben und immer mal wieder probieren.

Schon mal überlegt, was im Network Information Center von Guam gerade los ist? Mich bewegt diese Frage mindestens zweimal täglich. Jetzt endlich gibt eine kostengünstige Möglichkeit, sie zu beantworten. Unter ‘Guam Network Information Center’ kann die ganze Welt den Computern in Guam beim Computern zusehen.

Alternativ kann man sich die nötige Ruhe dadurch verschaffen, dass man eine Sumpfschildkröte beim Sumpfschildkröten beobachtet. Einfach auf ‘Turtle-CAM’ klicken, und man kann sich den Gang in den Zoo sparen. Das Leben dieser Tierchen scheint dermaßen gleichförmig zu verlaufen, dass das aktuelle Tagesbild vom Mai 2000 stammt. Andererseits: Wenn man 200 oder 300 Jahre alt wird, hat Aktualität möglicherweise eine andere Bedeutung.

Auch sehr spannend ist der Blick in ein Meisennest. Leider sind die Viecher jetzt nicht mehr da, sondern hängen an irgendwelchen Meisenknödeln und kleckern die Terrasse voll. Aber immerhin, sie waren da, und die alles entscheidende Frage ist, werden sie wiederkommen? Dies alles und noch viel mehr, gibt es bei Meisen-Cam. Und wem das nicht reicht, der kann im Meisen-Chat noch mehr Meisenwertes erfahren. Meisengeil, die Site.

Wem Vögel zu hektisch sind, der mag vielleicht zwei Papageien- und fünfzehn Neonfischen beim Schwimmen zuschauen. Das Ganze kommt als Live-Feed, wirkt zwar etwas ruckelig, ist aber sehr beruhigend. Wer will da noch einen Aquarium-Bildschirmschoner? Auf jeden Fall an die Fütterungen um 10:00 und 18:00 Uhr denken.

Will man mehr Äktschn, bietet es sich an, das Melken japanischer Kühe (http://www.yamagishi.or.jp/nogyo/image-l.html) zu beobachten. Keine Ahnung, wann sie zum Melken marschieren. Ich habe immer nur den High-Tech-Krempel im Stall ohne Kuh gesehen. Der iX-Rat: Dranbleiben, da tut sich was!

Ähnlich bewegend ist der Blick in die Gaststätte Mozart 18 in Kaiserslautern. Man weiß ja, dass dieser Szenetreff von wichtigen und illustren Persönlichkeiten der regionalen und internationalen Gesellschaft geradezu überrannt wird. Entsprechend aufregend ist der Blick in den Schankraum, den man erhaschen kann.

Eine sehr aufschlussreiche Kamera gibt es unter ‘Emil's tuintje WEB-cam’. Dort kann man in den Garten von Emil de Jong schauen. Wer hat sich nicht schon lange gewünscht, zu sehen, was Emil alles in seinem Garten anpflanzt.

Superinteressant ist auch die Wohnung von Bernd und Stephan. Ganz apart ein Blick ins geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer oder die funktionale Küche. Und wer wollte nicht schon immer mal in den Vorgarten der beiden sehen? Wem Big Brother zu aufregend ist: Stephan und Bernd haben die sedative Variante zum großen Bruder (sozusagen Tiny Brother) erfunden. Man kann in beider Leben eintauchen und an ihrem aufregenden Tagesablauf teilhaben. Alle, die mit den beiden in Kontakt treten wollen, können über die Webseite sogar ihren Pager anpiepsen. Stars zum Anfassen - wenn das nichts ist.

Wer mehr daran interessiert ist, Leuten zuzusehen, die an Orten leben, an denen sie gar nicht leben wollen, sollte einen Blick in den US-Knast werfen. Vier unterschiedliche Perspektiven lassen erahnen, wie es sich in schwarzweißer Kleidung und hinter schussfesten Gardinen lebt.

Oder wie wäre es mit einem Blick vom Brocken, jenem Schicksalsberg der deutschen Nation? Gerade jetzt im Winter sind Nebelschwaden und Nieselregen eine spirituelle Bereicherung für jeden Voyeur. Also fix geklickt, und schon kann man die Hexen tanzen sehen.

Schnee-Alpinfans ziehen vielleicht den Blick von der Zugspitze vor. Hier (wo auch sonst, heute hat ja jede Müllkippe einen eigenen Domain-Namen) gibt es alle halbe Stunde den aktuellen Blick von Deutschlands höchstem Berg.

Für alle, die es eher an die Waterkant zieht, tagesaktuelle Bilder von Deutschlands teuerster Insel. Die kleinen schwarzen Fitzel scheinen Leute zu sein, die am Strand rumstehen. Dafür ist die Brennweite der Kamera so klein, dass man sogar noch ein überaus interessantes Hotel links im Blick hat. Im Moment heißt tagesaktuell übrigens drei Tage Verzug zwischen Anschau- und Bilddatum - aber das Bild muss ja wahrscheinlich zunächst wetterfest verpackt und aufs Festland geschifft werden.

Noch besser - weil wärmer - ist der Blick auf einen Strand in Ibiza (San Antonio Mar). Gerade in dieser Jahreszeit wirkt das dunkelgraue Wasser vor dem hellgrauen Himmel sehr beruhigend.

Leute, die mehr auf urbanes Treiben stehen, wissen natürlich, dass einer der spannendsten Orte der Republik im Moment die Fußgängerzone in Goslar (http://www.harzart.de/karstadt) ist. Genauer der Eingang von Karstadt zur selbigen Einkaufsmeile. Wir alle wollen teilhaben am aufregenden Leben in dieser Metropole und darum hat eine Hand voll mutiger Geschäftsleute weder Kosten noch Mühen gescheut, uns das mondäne Treiben live im Web zugänglich zu machen.

Oder wie wäre es mit dem Blick auf eine Baustelle? Wer hat im wahren Leben schon die Chance, mal eine richtige Baustelle zu sehen? In München macht mans möglich: Die staunende Weböffentlichkeit hat endlich die Chance, direkt beim Bauen zuzusehen.

Zwar klingt das Konzept von Gratissolarium.de ganz gut, ist aber megamäßig dämlich. Die Jungs bieten ein kostenloses Solarium an - allerdings stehen in jeder Bräunungszelle WebCams, die den blanken Schniedel und den Hängebauch bis ans andere Ende der Welt transportieren. Natürlich ist der Inhalt nicht wirklich jugendfrei. Wobei das Jugendunfreieste die Werbebanner sind, mit denen die Betreiber versuchen, sich über Wasser zu halten. Nachdem man sich durch endlose Ebenen von überflüssigen Bannern geklickt hat, bietet ‘Gratis-Solarium’ Zugang zu den Kameras. Man fragt sich, wer den größeren Knall hat - die, die sich auf die Liege legen oder die, die ihnen dabei zuschauen. (ka)