Prügelknabe E-Mail

Überlastung durch zu viele E-Mails zu beklagen ist nahezu zum Volkssport geworden. iX-Chefredakteur Jürgen Seeger kann das Jammern nicht nachvollziehen.

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Von
  • Jürgen Seeger

Wie viele neue Mails warten auf Sie, wenn Sie eine Woche nicht im Büro waren? 100? 500? 1000? 5000? Nach der Spamfilterung natürlich. Ist die Anzahl noch dreistellig, gehören sie zu den Glücklichen: 2012 gab es nach Erhebungen der Radicati Group 850 Millionen Mail-Accounts von Firmen, und die sorgten mit 89 Milliarden Nachrichten pro Tag (!) für einen Großteil des E-Mail-Aufkommens (siehe „Alle Links“). Macht gut 100 Mails pro Tag und Nase.

Manager erhalten deutlich mehr Nachrichten, Journalisten (leider) auch. Forscher wollen herausgefunden haben, dass Angestellte in Unternehmen 20 Stunden pro Woche mit dem Bearbeiten von E-Mails verbringen. Also die Hälfte ihrer Arbeitszeit damit beschäftigt sind, E-Mails zu lesen, zu schreiben, zu sortieren, zu beantworten. Und zu löschen.

Noch eine Zahl: Nach jeder Mail benötigt man angeblich 64 Sekunden, um zur normalen Arbeit zurückzufinden. Das wären allein 100 Minuten pro Tag für Task-Wechsel.

Atos hat es darum mit seinem Zero-E-Mail-Programm mehrfach in die Schlagzeilen der Publikumspresse gebracht. Bis Ende 2013 will man dort möglichst ganz auf E-Mail verzichten und ist dabei, ein Facebook-ähnliches internes Social Network (blueKiwi) aufzusetzen, das dann zur Kommunikation dienen soll.

Facebook-ähnlich klingt erst einmal gut. Viele aus der U30-Generation halten E-Mail ohnehin für ein Relikt aus dem letzten Jahrtausend und setzen auf Nachrichten in sozialen Netzwerken oder Dienste wie WhatsApp. Sicherheit? Vertraulichkeit? Es geht ja auch bei E-Mail seit 40 Jahren ohne.

Ist also das Ende der E-Mail nur eine Frage der Zeit? Sind 2020 IMAP und SMTP nur noch von historischem Interesse, ruhen zusammen mit UUCP auf dem Friedhof der Kommunikationsprotokolle?

An diesen vollmundigen Prognosen seien Zweifel erlaubt. Denn bei genauerem Hinsehen entpuppt sich ein großer Teil des E-Mail-Bashings als Ergebnis eigenen Unvermögens.

Es ist niemand gezwungen, jede eingegangene Mail umgehend zu öffnen. Ein stündlicher, vielleicht sogar zweistündlicher Blick ins Postfach reicht. Viele Nachrichten kann man schon anhand der Betreffzeile löschen – en bloc. Prokrastination ist bei der E-Mail-Bearbeitung nicht zielführender als im richtigen Leben. Man muss auch nicht nach dem Motto handeln „Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.“ Und so weiter und so fort. Die nötigen Verhaltensregeln sind in beinahe jedem Zeitmanagement-Ratgeber nachzulesen.

Ja, richtig gelesen. Es geht um Verhalten, nicht um Technik. An Fehlern in der persönlichen Arbeitsorganisation ist nicht die E-Mail schuld. Diese Sichtweise dürfte sich aber erst wieder durchsetzen, wenn sich die Aufregung um die Überforderung durch E-Mail gelegt hat und die nächste IT-Sau durchs Dorf getrieben wird. Vielleicht kommt ja jemand auf die Idee, dass Telefonanrufe wegen jeder Kleinigkeit noch viel mehr nerven als Mails.

Alle Links: www.ix.de/1306003

PS: Bei der aktuellen "Frage des Monats" geht es auch um die Arbeitsbelastung durch E-Mail – zu finden bis Mitte Juni in der rechten Spalte auf dieser Seite.

(js)