Zahlen, bitte! 125 GeV – das Higgs-Boson komplettiert das Standardmodell

Vor fünf Jahren gelang den Forschern am CERN eine der wichtigsten Entdeckungen des Elementarteilchenphysik: Sie konnten das Higgs-Boson nachweisen und so das Standardmodell der Teilchenphysik komplettieren.

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Zahlen, bitte! 126 GeV - Higgs-Boson
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Am 4. Juli 2012 gab das Kernforschungszentrum CERN die Entdeckung eines lange gesuchten Elementarteilchens bekannt: das Higgs-Boson. Die Existenz des von der Boulevardpresse mitunter als "Gottes"-Teilchen bezeichneten Higgs-Bosons ist zwingend mit dem "Higgs-Mechanismus" verbunden, der zur Erklärung der Masse von Elementarteilchen dient.

Die erste Veröffentlichung der CERN-Forscher war extrem vorsichtig formuliert und erklärte – für wissenschaftliche Paper recht ungewöhnlich – zunächst mal, was man nicht gefunden habe: Man könne eine ganze Reihe von Teilchen mit Massen, die der bis dato vermuteten Masse des Higgs-Bosons sehr nahe waren, mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit ausschließen. Das lange gesuchte Signal bei ~126 GeV (Gigalelektronenvolt) zeige hingegen mit einer "lokalen Signifikanz von 2,9 Sigma" das gesuchte Teilchen.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

2,9 Sigma ist mathematischer Slang aus der Statistik, ohne den Elementarteilchenforscher nicht auskommen. Die Grundidee dahinter ist, dass jede einzelne Messung fehlerhaft sein kann – misst man sehr oft, erhält man eine Wahrscheinlichkeitsverteilung aller Messwerte. Die Spitze dieser typischerweise glockenförmigen Kurve liegt auf dem häufigsten Messwert, die Größe Sigma gibt die Breite der Kurve an, die so genannte Standardabweichung. Mit 99,7-prozentiger Wahrscheinlichkeit liegt irgendein beliebiger, neuer Messwert in einem Intervall, das sechsmal so breit ist, wie die Standardabweichung. 2,9 Sigma ist etwas weniger, also eine Wahrscheinlichkeit von rund 99,5 Prozent.

Eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 99 Prozent erscheint dem Laien schon recht hoch, für die internationale Gemeinschaft der Teilchenphysiker gilt eine Messung aber erst ab einem Konfidenzlevel von 5 Sigma als Entdeckung – umgerechnet eine Wahrscheinlichkeit von 99,99994 Prozent mit der Messung richtig zu liegen. Diese Schwelle schafften die beteiligten Forscher jedoch recht schnell. Bereits im August 2012 legten sie Veröffentlichungen vor, nach der die Sicherheit für den Nachweis des Higgs-Bosons auf 5,9 Sigma hochgeschraubt wurde.

Aber auch diese hohen Wahrscheinlichkeitswerte sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Fehler immer möglich sind. So hatten beispielsweise 2011 CERN-Forscher, die mit dem Neutrino-Observatorium in Gran Sasso kooperierten, angeblich überlichtschnelle Neutrinos beobachtet – mit einer Konfidenz von 6,2 Sigma. Später stellte sich heraus, dass ein defektes Kabel die Messergebnisse verfälscht hatte.

Bei aller Vorsicht der Teilchenphysik-Community war die Freude der Forscher über den Nachweis des Higgs-Teilchens riesig. Denn der neueste Zuwachs im Zoo der Elementarteilchen sollte die vorerst letzte Lücke im Standardmodell der Teilchenphysik schließen und die bislang noch fehlende Erklärung für die Masse von Fermionen liefern.

Peter Higgs und François Englert erhielten am 8. Oktober 2013 gemeinsam den Physik-Nobelpreis für ihre unabhängig voneinander vorhergesagten Eigenschaften des Elementarteilchens. Die "amtliche" ermittelte Masse des Higgs-Bosons H0 ‎beträgt 125.09±0.21 GeV/c2 (c2 lassen die Teilchenphysiker gerne weg, indem sie c = 1 setzen ;-)

Ein Zuwachs der Erkenntnis, der nur mit einem wirklich bemerkenswerten technischen Aufwand erreicht werden konnte: Als der Large Hadron Collider (LHC) in Genf geplant wurde, haben sich die Physiker beispielsweise an zwei Größen orientiert – an der Länge des bestehenden Tunnelrings und der Energie, mit der die Teilchen aufeinander prallen müssen. Als dritter Faktor ergibt sich daraus die so genannte "Bending Power", die die Magneten haben müssen: Die großen Dipole sollen ein Magnetfeld von 8,36 Tesla erzeugen. Wie man solche Magnete konstruiert und ob man sie überhaupt bauen kann, war zum Zeitpunkt der Planung überhaupt noch nicht klar.

Das Forschungszentrum CERN (17 Bilder)

Das CERN

Die hier markierten Ringe der Teilchenbeschleuniger verlaufen unterirdisch.
(Bild: Maximilien Brice)

Die gigantische Maschinerie wurde zwar gebaut, lief aber in den ersten Jahren unrund: Ein Leck in der Magnetkühlung führte dazu, dass der Beschleuniger nur eine Woche nach dem Anfahren im Jahr 2008 wieder abgeschaltet werden musste. Die ursprünglich geplante volle Energie von 7 TeV pro Strahl hat der Beschleuniger zudem nie erreicht – bis 2016 wurde er nur mit "halber Kraft" gefahren. Das gesuchte Higgs-Teilchen lag allerdings tatsächlich in einem Energie-Bereich, den der Beschleuniger bereits abdeckte. Manchmal muss man eben einfach Glück haben.

Befürchtungen, der LHC könne bei seinem Betrieb mikroskopische schwarze Löcher erzeugen, die das Ende der Welt bedeuten würden, bewahrheiteten sich hingegen nicht. Was im Rückblick skurril wirkt, dürfte am CERN nicht nur für Gelächter gesorgt haben – zumal Kritiker versucht hatten, den Betrieb des Beschleunigers gerichtlich unterbinden zu lassen. Umso erstaunlicher, dass eine Gruppe von Forschern am CERN ihren eigenen Open-Source-Horrorfilm drehten. Das Szenario: Bei einem Unfall werden Wissenschaftler mit hochenergetischen Higgs-Bosonen verstrahlt. Die introvertierten Forscher verwandeln sich daraufhin in blutrünstige Zombies, während der ehrgeizige Institutsleiter versucht, den Unfall zu vertuschen. Der Titel des Films: "Decay – Zerfall".

(wst) / (vza)