Erfahrungen eines IT-Freelancers: Vier Tage Arbeit, fünf Tage Kopfzerbrechen

Immer häufiger wird über die 4-Tage-Arbeitswoche diskutiert. Wer den fünften Tag nur zum Faulenzen will, ist dabei falsch, zeigt der Bericht eines Freelancers.

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(Bild: iX)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Jens Henneberg
Inhaltsverzeichnis

Achtung! Meine Interpretation der 4-Tage-Woche könnte sich drastisch von der eines Vertreters (m/e/n/s/c/h) der Generation Z unterscheiden – und das ist keineswegs wertend gemeint. Für die meisten ist ein zusätzlicher freier Tag wie ein Geschenk, das vom Himmel fällt. Für mich? Ich bezahle dafür vorab mit einer organisatorischen Tour de Force. Ich bin kein Organisationsguru, aber ich habe genug Narben, um zu wissen, wie man auf mehreren Hochzeiten tanzt, ohne sich selbst zu zerstören.

Ein Beitrag von Jens Henneberg

Jens Henneberg ist ISAQB-zertifizierter Senior Software Architect, Tech-Evangelist und AI-Enthusiast. Er bezeichnet sich selbst als kaleidoskopische Scannerpersönlichkeit, adaptiven Multiple-T-Profiler und divergent denkenden Lösungsfinder. Als Clean-Coder ist es sein Anspruch, wartbaren, nachhaltigen Code zu schreiben. Als AI-Enthusiast sieht er das transformative Potenzial, aber auch die Gefahr der zu schnellen Entfesselung der disruptiven Kraft der Künstlichen Intelligenz.

Doch hier liegt der springende Punkt: Ich bin der Überzeugung, dass die Vier-Tage-Woche, ob man nun ein Organisationsguru oder aus dem Reich des Chaos stammt, ihren Preis hat. Einen Preis, der nicht immer sofort ersichtlich ist, zumindest nicht zu Beginn.

Als sogenannte Scannerpersönlichkeit, ein „männlicher Lola rennt“, bin ich ein ewiger Nomade im Reich des Wissens, mit (abgeschlossenen) Studiengängen in Jura und Informatik und mehr angefangenen Wissensbetankungen als der junge Begleiter des Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg. Für Freaks wie mich ist die 4-Tage-Woche nicht bloß eine Option, sondern die Frucht einer natürlichen Evolution.

Ich bin ein Freelancer, der zwischen 32 und 35 Stunden pro Woche abrechenbar für Kunden arbeitet. Freitags arbeite ich oft nur zwei Stunden. Das einzig private "Projekt" an diesem Tag ist aber mein ausgedehnteres Training. Ansonsten nutze ich die Zeit für Content-Marketing – ich habe einen Podcast und einen Blog –, für Steuerangelegenheiten oder arbeite an einem digitalen Kurzfilm. Auch das vor dem Hintergrund, mir einen weiteren Einkommensstrom aufzubauen.

Der Übergang zu einer Vier-Tage-Woche war keineswegs ein Spaziergang. Es waren die rasanten Fortschritte der KI, die mir den entscheidenden Vorteil verschafften. Während eines berufsbegleitenden Masterstudiums in KI habe ich ein Arsenal an Wissen erworben, das mir die Automatisierung fast aller Aspekte meiner Arbeit ermöglicht hat. Ähnlich wie es Tools wie XenoGuard (Stichwort: RPA) machen, werden meine Mails zum größten Teil automatisiert beantwortet. Nervige Recruiting-Anfragen nach meinem Interesse, für ein Erntehelfersalär in die Schweiz zu ziehen, um dort meinem Traumjob nachzugehen, für ein Unternehmen, dessen Kununu-Bewertungen so gut sind wie Hannibal Lectors Empathiewerte, werden jetzt schneller aussortiert und ignoriert. Und Anfragen, die ich nur aus Verfügbarkeitsgründen ablehnen muss, bekommen eine nette Antwort wahlweise im Stil von Daniel Kehlmann, Justin Cronin oder Margret Atwood.

In meiner Rolle als Senior Softwarearchitekt ist das Coden nicht mehr meine Hauptaufgabe. Wenn ich mich aber damit befasse, dann ausschließlich mit KI-basierten Werkzeugen wie Tabnine, GitHub Copilot und einem personalisierten (PyTorch) ChatGPT. Letzterer kann sogar in Verbindung mit PlantUML bei Architekturentscheidungen eine Rolle spielen. Ich bin mir der inhärenten Risiken dieser Technologien voll bewusst, ebenso wie der Notwendigkeit, diese digitalen Assistenten sorgfältig zu überwachen. Insbesondere bei der testgetriebenen Entwicklung (TDD) erweist sich "Copi" – unser liebevoller Spitzname für GitHub Copilot – aber als unschätzbar wertvoll.

Der von der KI generierte Code mag bestenfalls mittelmäßig sein. Aber die Zeitersparnis durch das Review von drei Seiten mittelmäßigem Code übertrifft bei Weitem die Zeit, die für das Schreiben von drei Seiten makellosem Code erforderlich wäre. Das sind nur zwei von etlichen Beispielen, die eines zum Ziel hatten: Steigerung meiner Produktivität bei gleichzeitiger Verknappung der Arbeitszeit.

Zumindest Anfangs kamen dabei Fragen auf: „Wieso machst du jetzt schon Feierabend?“ Doch wenn am nächsten Tag festgestellt wurde, dass ich eine User Story abgeschlossen hatte, die auf drei Personentage (PT) geschätzt wurde – beim Taskbreakdown wird in einigen Projekten nicht mehr nach Fibonacci-Komplexität, sondern in PTs geschätzt –, dann hatte ich meine Rechtfertigung für den scheinbar vorzeitigen Feierabend mehr als erbracht.

Ist das nun alles wirklich so neu, das mit der 4-Tage-Woche? Ist das nun New Work? Abgesehen davon, dass ich diesen Begriff New Work so gerne höre, wie das Kratzen von Fingernägeln auf Kreidetafeln, ist daran – für mich – nichts neu. Ich bin zu alt für diesen Mist, um nicht zu sehen, dass es nur eine weitere Sau ist, die durchs Dorf getrieben wird. Nur diesmal hat jemand Peppa Wutz ein Faschingskostüm angezogen und nennt es „revolutionär“. Hey, alte Hasen, erinnert ihr euch an die 35-Stunden-Woche der IG Metall aus den 80ern? Genau.

Die 4-Tage-Woche spricht womöglich vor allem diejenigen an, die nicht gerade vor Motivation überkochen. Gerade Old-School-Highperfomer mag ihr – teilweise berechtigter – Groll gegenüber den Slogans der Generation Z von einer Bewerbung bei einer 4-Tage-Stelle abhalten. Außerdem sehe ich die Gefahr, dass die verbliebenen vier Arbeitstage verdammt lang werden können, wenn man das trotz der Kürzung gleichbleibende Arbeitspensum nicht schafft. Da wird der eine Tag mehr "Life" von den vier Tagen mehr "Work" weggebalancet.

Als ich als Informatiker startete, war ich so langsam wie eine Weinbergschnecke, die einen Elefanten den Nanga Parbat hochzieht. Mittlerweile ziehe ich Applikationen gefühlt fünfmal so schnell hoch wie früher. Ich schaffe heute so viel an einem Tag wie mein altes Ich in einer Woche, wozu auch die Freiberuflichkeit – in Pause verdiene ich schließlich nichts –beigetragen hat. Dazu kommt das parkinsonsches Gesetz: Arbeit dehnt sich in genau dem Maß aus, wie Zeit für ihre Erledigung zur Verfügung steht. Gilt auch für mich. Unter Druck entstehen (manchmal) Diamanten.

Die 4-Tage-Woche ist nicht für jeden geeignet. Es ist eine Frage des Charakters. Wer glaubt, dass eine 4-Tage-Woche ein sorgloses Dahintreiben bedeutet, der irrt. Wie schon Seneca lehrte: "Nichts, was leicht zu haben ist, ist von großem Wert." Das gilt auch für die 4-Tage-Woche.

(jvo)