Arbeitsrecht: EU-Staaten einigen sich auf erste Algorithmus-Regulierung

Algorithmen sollen weniger allmächtig über Plattform-Jobber herrschen. Zudem sollen Scheinselbständigkeit und Datenbeschaffung bekämpft werden.​

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Eine Person auf einem Motoroller; hinten ein grüner Würfel mit Aufschrift "Bolt Food"

Einer von geschätzt 28 Millionen Plattform-Jobbern in der EU.

(Bild: Daniel AJ Sokolov)

Lesezeit: 5 Min.
Inhaltsverzeichnis

Auf neue Regulierung "digitaler Arbeitsplattformen" wie zum Beispiel Lieferdienste haben sich die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten mit Unterhändlern des EU-Parlaments geeinigt. Ziel ist, Scheinselbständigkeit zu bekämpfen, die Allmacht von Algorithmen einzuhegen, und Behörden mehr Daten zu verschaffen. Es ist der dritte Anlauf. Zwei frühere Kompromisse sind geplatzt.

Die neue Einigung datiert inhaltlich vom 8. Februar; am Montag haben die Arbeits- und Sozialminister der EU-Mitgliedsstaaten ihre Zustimmung erteilt. Nun muss noch das Plenum des EU-Parlaments zustimmen, um den Verordnungsentwurf zur Verordnung reifen zu lassen. "Das ist das allererste Stück EU-Recht, das algorithmisches Management am Arbeitsplatz reguliert und EU-Mindeststandards zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Millionen Plattform-Arbeiter in der gesamten EU setzt", ist der belgische Wirtschafts- und Arbeitsminister Pierre-Yves Dermagne (Parti socialiste) stolz. Sein Land führt derzeit den EU-Vorsitz im Rat der Europäischen Union.

Laut Verordnungsentwurf liegt eine "digitale Arbeitsplattform" vor, wenn Dienstleistungen auf Verlangen eines Auftraggebers durch Einzelpersonen zumindest teilweise mittels Telekommunikation erbracht werden. Zusätzlich müssen dabei "automatisierte Überwachungs- oder Entscheidungssysteme" eingesetzt werden, um die Definition zu erfüllen. Nicht erfasst sind Plattformen, bei denen es in erster Linie nicht um Dienstleistungen geht, sondern um Güter. Letzteres könnte beispielsweise Sexarbeitern helfen, die auf Plattformen inserieren, auf denen vorwiegend Sachen gehandelt werden.

Der Entwurfstext enthält eine Reihe von Verboten für automatisierte Überwachungs- oder Entscheidungssysteme digitaler Arbeitsplattformen. Die Algorithmen dürfen keinen "übermäßigen Druck" ausüben, Gesundheit und Sicherheit nicht gefährden, und weder biometrische Daten noch eine lange Reihe personenbezogener Daten verwenden (über emotionale oder psychische Zustände des Jobbers, über private Gespräche, über Jobber außerhalb der Arbeitszeit, über die Vorhersage der Ausübung von Grundrechten wie beispielsweise Kollektivmaßnahmen, über Rasse, ethnische Herkunft, Migrationsstatus, politische oder religiöse Ansichten, Behinderungen, Gesundheitszustand, Sexualleben, sexuelle Orientierung oder Gewerkschaftszugehörigkeit). Vorgeschrieben werden sollen Folgenabschätzungen für Datenschutz sowie Sicherheit und Gesundheit.

Verlangt wird zudem eine Reihe von Offenlegungen über den Betrieb automatischer Überwachungs- und Entscheidungssysteme. Für Überwachungssysteme sind umfasst die Ziele der Systeme, die genutzten Datenkategorien, sowie Übermittlungen und Empfänger personenbezogener Daten. Bei Entscheidungssysteme geht es um die Kategorien von Entscheidungen, Datenkategorien und wichtigste Parameter, deren relative Bedeutung, wie Verhalten der Jobber die Entscheidungen beeinflussen, und welche Gründe konkret zu nachteiligen Entscheidungen geführt haben.

Das alles soll bereits im Rahmen des Einstellungsverfahrens transparent gemacht werden müssen. Jobber sollen zusätzlich das Recht erhalten, personenbezogene Daten unentgeltlich an Dritte übertragen zu lassen.

Verboten werden sollen automatisierte Entscheidungen über Beschränkungen des Vertragsverhältnisses oder des Kontos von Plattform-Jobbern. Solche nachteiligen Entscheidungen sind Menschen vorbehalten. Zusätzlich ist vorgesehen, dass die Dienstleister Anspruch darauf haben, unverzüglich eine Erklärung für jede von einem automatisierten Entscheidungssystem getroffene oder unterstützte Entscheidung zu erhalten.

Bei wichtigen Entscheidungen wie Kontosperren, Verweigerung der Bezahlung oder Änderung des Vertragsstatus sollen die Plattformen schon von Haus aus eine schriftliche Begründung liefern müssen. Außerdem sollen Jobber Berufung einlegen können – wahrscheinlich nur gegen wichtige Entscheidungen, der Entwurfstexts lässt bei der Auslegung aber Spielraum. Grundsätzlich sollen Plattformbetreiber (unter Einbeziehung von Arbeitnehmervertretern) überwachen, wie sich einzelne Entscheidung der Algorithmen auf die Dienstleister und deren Arbeitsbedingungen und die Gleichbehandlung am Arbeitsplatz auswirken.

Einen verwirrenden Kompromiss haben die Beteiligten zur Einstufung von Dienstleistern als Selbständige und Unselbständige erzielt. Plattform-Jobber sollen grundsätzlich als unselbständig Beschäftigte gelten, aber nur in "Verwaltungs- und Gerichtsverfahren, wenn es um konkrete Bestimmung des Beschäftigungsstatus" geht – nicht aber bei "Verfahren, die Steuerfragen, Strafsachen oder Sozialversicherungsfragen betreffen", wobei es Mitgliedsstaaten freigestellt ist, auch dafür gesetzliche Vermutungen festzulegen. Zu einer EU-weiten Vereinheitlichung kommt es also nicht.

Feststellungsverfahren können sowohl die Jobber als auch Behörden einleiten. Der Plattformbetreiber kann dann versuchen, zu beweisen, dass kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt. Das wird schwer, denn die konkret zwischen Plattform und Jobber geschlossene Vereinbarung ist ausdrücklich unerheblich. Erheblich sind allerdings viele andere Faktoren: Rechtsnormen, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), Kollektivverträge, Tarifverträge, und "Gepflogenheiten der Mitgliedsstaaten".

Wird ein Arbeitsverhältnis festgestellt, führt das zur nächsten Frage: Wer gilt als Arbeitgeber? Das überlässt die Verordnung den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen.

Kapitel IV des Verordnungsentwurfs verpflichtet Plattformbetreiber dazu, die geleistete Arbeit jenem Mitgliedsstaat zu melden, in dem die Arbeit ausgeführt wird. Nämlich automatisch die Zahl der Jobber, aufgeschlüsselt nach Ausmaß ihrer Tätigkeit sowie Vertrags- und Beschäftigungsstatus, die allgemeinen Bedingungen, die Identität etwaiger Vermittlungspartner, sowie, auf Anfrage, "die durchschnittliche Dauer der Tätigkeit, die durchschnittliche wöchentliche Zahl der geleisteten Arbeitsstunden pro Person und das durchschnittliche Einkommen aus der Tätigkeit von Personen, die regelmäßig Plattformarbeit über die betreffende digitale Arbeitsplattform leisten."

Die Ratspräsidentschaft schätzt, dass es in der Union 28 Millionen Jobber auf digitalen Vermittlungsplattformen gibt. First für die Umsetzung der Verordnung in nationales Recht wäre zwei Jahre plus 20 Tage nach Veröffentlichung im EU-Amtsblatt. Für die anschließende Durchführung der Bestimmungen könnten entweder nationale Behörden oder die Sozialpartner sorgen.

(ds)