Arbeitszeiterfassung: Bitkom kritisiert mögliche Stechuhr im Homeoffice

Der IT-Verband Bitkom kritisiert die nun vorliegende Begründung des Urteils des Bundesarbeitsgerichts zur Arbeitszeiterfassung scharf. Ein Jurist hält dagegen.

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(Bild: MT-R/Shutterstock.com)

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Kein gutes Haar an den jetzt veröffentlichten Entscheidungsgründen zum Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur Arbeitszeiterfassung vom 13. September hat der Digitalverband Bitkom gelassen. Der Präsident der Vereinigung, Achim Berg, liest daraus sogar eine Pflicht heraus, die Stechuhr im Homeoffice einzuführen. Dies passe überhaupt nicht zusammen und laufe "den Interessen vieler Unternehmen und ihrer Beschäftigten zuwider".

Mit dem Beschluss (Az.: 1 ABR 22/21) haben die Erfurter Richter prinzipiell alle Arbeitgeber verpflichtet, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit ihrer Beschäftigten zu erfassen. Sie folgten damit der Linie eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 14. Mai 2019. Die ersten Informationen über die Entscheidung des höchsten deutschen Arbeitsgerichts ließen Detailfragen offen. Die in Fachkreisen mit Spannung erwartete Begründung führt nun aber erneut zu unterschiedlichen Lesarten.

"Deutschland braucht keine auf die Minute festgelegten 8-Stunden-Schichten, sondern Freiräume für eine selbstbestimmte und flexible Einteilung der Arbeit", betont Berg auf Basis des gesamten Urteils. Dazu gehöre auch, ein privates Telefonat zu führen, Besorgungen zu machen, im Homeoffice für die Kinder da zu sein oder auch mal eine Runde zu joggen. Sich für solche Aktivitäten "jeweils einige Minuten aus einer Arbeitszeiterfassung auszubuchen, hilft niemandem und nervt alle".

Der Bitkom-Präsident weist zudem darauf hin, dass es in vielen Berufen keine klare Trennlinie zwischen beruflichen und privaten Tätigkeiten gibt. Dies beziehe sich etwa auf diese Nutzung sozialer Medien, die Pflege des persönlichen Online-Netzwerks oder thematische Recherchen. Eine auf Vertrauen und Flexibilität bauende Unternehmenskultur sei ferner unabdingbar, um im internationalen Wettbewerb um Talente erfolgreich sein zu können. Das europäische Arbeitsrecht orientierte sich dagegen noch zu häufig am Bild der Fließbandtätigkeiten aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, "nicht an der flexiblen Arbeit in unserer heutigen digitalen Welt".

Berg fordert daher eine Novelle des deutschen Arbeitszeitgesetzes, mit der "nicht alle Beschäftigten über einen Kamm" geschert werden. Vor allem gelte es, "die Vorteile der Vertrauensarbeitszeit weiter nutzbar zu machen". Die geplante Reform sei auch eine Chance, "die von der Realität oft überholten Norm der täglichen Höchstarbeitszeit durch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit zu ersetzen". Dies gäbe den Beschäftigten mehr Spielraum. Denn wer heute abends um neun noch eine Stunde arbeite, dürfe streng genommen am nächsten Morgen um acht sein Diensthandy noch nicht benutzen, um die vorgesehene elfstündige Ruhepause einzuhalten.

"Das Bundesarbeitsgericht verlangt von Arbeitgebern keine Rückkehr zur Stechuhr", kommentiert dagegen Peter Wedde, emeritierter Professor für Arbeitsrecht an der Frankfurt University of Applied Sciences, die Urteilsbegründung. Erforderlich sei jedoch "eine nachvollziehbare, ehrliche und moderne Form der Erfassung der individuellen Arbeitszeiten". Dafür müssten in allen Betrieben oder Dienststellen "objektive, verlässliche und zugängliche Systeme zur Zeitmessung eingeführt werden". Diese seien auch bei speziellen Ausgestaltungen wie der Vertrauensarbeitszeit oder bei Tätigkeiten auf Basis vereinbarter Zielvorgaben vorgeschrieben.

Das Gericht geht laut Wedde "vom Regelfall einer automatisierten Erfassung aus". In kleinen Betrieben bleibe aber eine manuelle Erfassung möglich, etwa mithilfe einer Tabellenverarbeitung. Aus Sicht der Arbeitgeber bedeutet die Einführung der notwendigen Messsysteme und -prozesse einen erhöhten Aufwand. Dieser werde aber aufgewogen, da "gesetzliche Höchstarbeitszeiten und zwingende Ruhezeiten besser eingehalten werden als bisher". Das diene dem Gesundheitsschutz und reduziere auf Dauer die Zahl von Krankheitstagen.

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Wedde hält das Urteil auch für praktikabel: In vielen Betrieben gebe es bereits Arbeitszeiterfassungssysteme, die die formulierten Anforderungen erfüllten. Sonst könne für die Messungen in der Regel auf Zeitinformationen zurückgegriffen werden, die in unterschiedlichen für die Arbeit verwendeten Softwareanwendungen genutzt werden. Eine "Totalkontrolle" der Betroffenen sei nicht verlangt und wäre auch nicht zulässig: "Es geht nur um die genaue Erfassung von Beginn und Ende der Arbeitszeit, nicht aber um eine minutiöse Dokumentation jeder Arbeitshandlung".

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) setzte sich im Februar dafür ein, mit seinem Gesetzentwurf zum Mindestlohn die Arbeitszeit in elf Branchen sofort digital zu erfassen. Die Bundesregierung strich diese Klausel nach Protesten. Sie will zunächst prüfen, ob ein solches Vorhaben technisch möglich und umsetzbar ist.

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