Biometrische Überwachung: EU-Rat streicht Straftatenkatalog und Richtervorbehalt

Die Ratspräsidentschaft hat den wackeligen Kompromiss zur Fahndung etwa mit Gesichtserkennung in der KI-Verordnung weiter aufgeweicht. Das führt zu viel Kritik.

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Halbes Gesicht einer weißen Frau, darüber gelegt symbolische Rasterung

(Bild: Fractal Pictures/Shutterstock.com)

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Das vom EU-Parlament geforderte Verbot biometrischer Massenüberwachung, etwa durch automatisierte Gesichtserkennung in der Strafverfolgung, ist ein besonders umstrittener Aspekt am Ende des dreitägigen Verhandlungsmarathons AI Act. Die Mitgliedsstaaten waren von Anfang an dagegen und setzten die Abgeordneten unter Druck, auf ihren Kurs umzuschwenken. Heraus kam ein Kompromiss, der Kritikern zufolge bereits breite Hintertüren für die biometrische Überwachung öffnet. Der Ministerrat hat verbliebene Einschränkungen, auf die die Volksvertreter bestanden, in seiner Zusammenfassung der Ergebnisse nun aber auch noch gestrichen.

"Die Verhandlungsführer einigten sich auf eine Reihe von Schutzmaßnahmen und engen Ausnahmen für den Einsatz biometrischer Identifikationssysteme" in öffentlich zugänglichen Räumen zu Strafverfolgungszwecken, teilte das Parlament bereits am 9. Dezember 2023 mit. Voraussetzung seien "eine vorherige richterliche Genehmigung" und eine "streng definierte Straftatenlisten". Eine nachträgliche automatisierte Suche nach Tätern mithilfe von Gesichtserkennung, wie sie etwa die Hamburger Polizei nach dem G20-Gipfel durchführte, werde "ausschließlich für die gezielte Suche nach einer Person eingesetzt, die wegen einer schweren Straftat verurteilt oder verdächtigt wird".

Im Entwurf der damaligen spanischen Ratspräsidentschaft vom 22. Dezember für den Artikel 29 Absatz 6a, den Netzpolitik.org veröffentlicht hat, liest sich das anders. Der Betreiber eines KI-Systems im Bereich der Strafverfolgung soll demnach "zur nachträglichen biometrischen Fernidentifizierung eine Genehmigung vorab, unverzüglich und spätestens 48 Stunden, durch eine Justizbehörde oder eine Verwaltungsbehörde beantragen". Der von den Abgeordneten vermeintlich durchgesetzte verbindliche Richtervorbehalt wäre also nur noch eine Option. Stattdessen könnten etwa auch eine Staatsanwaltschaft oder ein Ministerium eine Suche per Gesichtserkennung in Videoaufnahmen anordnen.

Dazu sieht der Ratsvorsitz eine weitere umfassende Ausnahme selbst für diese Bestimmung vor. Gar keine Genehmigung müssten Ermittler einholen, wenn das biometrische System "der Erstidentifizierung eines potenziellen Verdächtigen auf der Grundlage objektiver und überprüfbarer Tatsachen" dient, "die in direktem Zusammenhang mit der Straftat stehen". Was eine anfängliche Identifizierung ist und wie sie sich von einer offenbar gründlicheren späteren Variante unterscheiden könnte, bleibt offen. Jede Verwendung soll aber "auf das für die Aufklärung einer konkreten Straftat unbedingt erforderliche Maß" beschränkt werden. Ins Blaue hinein dürfe also nicht gefahndet werden.

Auch von dem engen Straftatenkatalog, den das Parlament in Aussicht stellte, findet sich keine Spur mehr. Dem Ratsentwurf zufolge würde "jeglicher Zusammenhang mit einer Straftat, einem Strafverfahren, einer tatsächlichen und gegenwärtigen oder tatsächlichen und vorhersehbaren Gefahr einer Straftat oder der Suche nach einer bestimmten vermissten Person" reichen, um im Nachgang eine biometrische Überwachung durchzuführen.

Nur in der zusätzlichen Gesetzesbegründung heißt es: "Nachträgliche biometrische Fernidentifizierungssysteme sollten im Rahmen der Strafverfolgung nicht so eingesetzt werden, dass sie einer wahllosen Überwachung gleichkommen." Generell seien die Vorgaben aus der Datenschutzrichtlinie für Polizei und Justiz zu beachten.

Zusätzlich soll laut dem Parlament eine Echtzeit-Identifikation "zeitlich und örtlich begrenzt" möglich werden zur gezielten Suche nach Opfern von Entführungen, Menschenhandel und sexueller Ausbeutung oder zur Abwehr "einer konkreten und gegenwärtigen terroristischen Bedrohung". Als weiterer Zweck wird die Lokalisierung oder Identifizierung einer Person genannt, die im Verdacht steht, eine Reihe schwerer Straftaten begangen zu haben.

Die parlamentarische Berichterstatterin der Liberalen, Svenja Hahn (FDP), kritisierte die Ratsvorlage gegenüber Netzpolitik.org als "Bedrohung für die Bürgerrechte". Selbst geringfügige Ordnungswidrigkeiten könnten durch Gesichtserkennung verfolgt werden: "Das wäre ein völlig unverhältnismäßiger Einsatz biometrischer Technologie." Gesichtserkennung werde "in aufgezeichneten Überwachungsbändern" etwa von Demos "ganz ohne Richtervorbehalt und schon bei Bagatellstraftaten möglich", moniert Patrick Breyer (Piratenpartei).

"So geht das nicht. Deutschland muss hier auf europäischer Ebene handeln und intervenieren", fordert Alexander Rabe vom eco-Verband der Internetwirtschaft. Die Bürgerrechtsorganisation Epicenter.works wittert gar eine "Katastrophe für die Menschenrechte". Beim EU-Dachverband European Digital Rights (EDRi) heißt es: Die Einigung würde das Bekenntnis des Parlaments zum Verbot der biometrischen Massenüberwachung "verraten". Mit dem finalen, auch von den Unterhändlern der Abgeordneten freigegebenen Gesetzestext wird Ende Januar gerechnet. Rat und Parlament müssen diesem dann noch zustimmen, was als Formsache gilt.

(emw)