Ein Jahr Ampel: Kaum Fortschritt in der Digitalpolitik

"Mehr Fortschritt wagen" – so prangt es auf der Titelseite des Koalitionsvertrages. In der Digitalpolitik sind die Fortschritte aber bislang kaum zu spüren.

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(Bild: peampath2812/Shutterstock.com)

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Von
  • Falk Steiner
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Als die Ampelregierung vor einem Jahr antrat, hängte sie das Thema Digitalisierung überraschend hoch auf. In ihrem Koalitionsvertrag setzte sie das Kapitel "Moderner Staat, Digitaler Aufbruch und Innovationen" ganz nach vorn, noch vor den Klimaschutz. FDP-Mann Volker Wissing erhielt den Auftrag, die Digitalpolitik zu koordinieren und ist seitdem zumindest dem Titel nach Deutschlands erster Bundesdigitalminister.

Wie Wissing das Land entstauben will, fasste er im Sommer in einem Interview mit dem Deutschlandfunk zusammen: Er werde sich "nicht in Zukunftsvisionen von Flugtaxis und anderem verlieren" – ein Seitenhieb auf Dorothee Bär (CSU), Flugtaxi-Fan und machtlose Digital-Staatsministerin der Vorgängerregierung. Stattdessen, so versprach Wissing es in seiner im Sommer verkündeten Digitalstrategie, bringe die Ampel konkrete "Hebelprojekte" voran, wie den Ausbau von Glasfaser und Mobilfunk, sichere digitale Identitäten sowie Normen und Standards für die Digitalisierung.

Im Sommer spottete Digitalminister Volker Wissing (FDP) noch über die Flugtaxi-Begeisterung der Vorgängerregierung – im November pilgerte er selbst zum Hersteller Volocopter.

(Bild: Volocopter)

Anders als Bär darf Wissing immerhin über ein wichtiges Thema allein entscheiden – über die digitale Infrastruktur. Und hier passiert tatsächlich etwas: 2022 wurde erstmals das Drei-Milliarden-Euro-Budget des Bundes für Breitbandförderung ausgeschöpft. Die Zahl der verlegten Glasfaserkilometer steigt, auch wenn die Tiefbaufirmen nach wie vor überlastet sind. "Es wird nicht am Geld scheitern", sagt etwa Norbert Westfal, Präsident des Bundesverbands Breitbandkommunikation. Beim Mobilfunkausbau gibt es zumindest Hoffnung: 2023 könnte der erste Mast errichtet werden, der von der bundeseigenen Mobilfunkinfrastrukturgesellschaft gefördert wird.

Für die meisten anderen Digitalthemen ist Wissing allerdings, trotz seines Titels, nicht zuständig. Um digitale Identitäten, die Digitalisierung der Verwaltung und um das enorm wichtige Thema Cybersicherheit kümmert sich Innenministerin Nancy Faeser (SPD). Sie kommt bislang kaum voran.

So lässt zum Beispiel die Smartphone-Variante des elektronischen Personalausweises weiter auf sich warten. Einen neuen Starttermin mag das Innenministerium nach etlichen Verschiebungen aktuell nicht nennen. Und nur wenige digitale Verwaltungsdienstleistungen werden Ende 2022 flächendeckend verfügbar sein, obwohl es laut Onlinezugangsgesetz fast 600 sein müssten.

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Das ist nicht allein die Schuld der Ampel – Bundesländer, Kommunen und Vorgängerregierungen spielen eine große Rolle. "Solch einen Rückstand kann man sicher nicht in einem Jahr aufholen, aber bisher ist nicht einmal zu erkennen, dass die Ursachen für diesen Rückstand systematisch erfasst und bekämpft werden", kritisiert Jeanette Hofmann, Leiterin der Forschungsgruppe Politik der Digitalisierung am Wissenschaftszentrum Berlin.

Wie problematisch dieses Verwaltungsdigitalisierungsdefizit in der Praxis sein kann, zeigte sich im Sommer, als Finanzminister Christian Lindner (FDP) beklagte, er könne nicht jedem Bundesbürger Geld für die gestiegenen Energiekosten überweisen. Die dafür nötigen Daten zusammenzuführen, dauere laut dem Bundeszentralamt für Steuern "mal eben 18 Monate". Vor Kurzem gab Volker Wissing bekannt, dass Deutschland dem ukrainischen Digitalministerium helfen wolle – und zwar, um "ein Geschäftsmodell für die Beratung von Drittstaaten im Bereich E-Government zu entwickeln". Wer da wohl gemeint ist?

Beim Thema Cybersicherheit verspielte Faeser in der Öffentlichkeit viel Vertrauen, als sie dem Präsidenten des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), Arne Schönbohm, die Ausübung seines Amtes verbot. Faeser gab Gründe an, die vorgeschoben wirken. Manche Experten glauben, sie stört sich eher daran, dass Schönbohm meist auf seine Fachleute hörte und für das schnelle Schließen von Sicherheitslücken und für digitale Bürgerrechte warb.

Faeser hingegen bleibt bei Überwachungsthemen bisher auf der Linie ihrer Amtsvorgänger aus CSU und CDU, Unterschiede sind kaum erkennbar. Zum Beispiel will die SPD-Politikerin bei der Vorratsdatenspeicherung bis an die Grenzen des europarechtlich Möglichen gehen und IP-Adressen anlasslos speichern.

Damit stellt sie sich gegen Justizminister Marco Buschmann von der FDP und auch gegen die Aussage im Koalitionsvertrag, dass Daten "anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss gespeichert" werden sollen. "Im Bereich der IT-Sicherheit sehen wir aktuell mit Sorge, dass sich insbesondere das Bundesinnenministerium von den im Koalitionsvertrag formulierten Zielen zur Verschlüsselung und dem Schutz der Privatsphäre verabschiedet", sagt Oliver Süme, Vorstand des Internetwirtschaftsverbands eco.

Auch in anderen Ressorts sind Fortschritte nur zarte Pflänzchen. Das Wirtschaftsministerium von Robert Habeck (Grüne) lobt sich für die Ansiedlung von Halbleiterwerken. Insbesondere die geplante Fab von Intel in Magdeburg wird als großer Erfolg verbucht, ist mit vielen Milliarden Euro Subventionen aber teuer erkauft.

Und Digitalminister Wissing? Muss Habeck und Faeser gewähren lassen. Er darf Strategiepapiere zusammenbauen, den Ehrgeiz der Kabinettskollegen kommentieren, aber nicht wirklich mitreden. "Wir haben seit einem Jahr ein Ministerium, das den Begriff Digital im Namen trägt, die angekündigte Kompetenzbündelung ist die Ampel aber schuldig geblieben", kritisiert Bitkom-Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder.

Forscherin Jeanette Hofmann sieht aber noch eine weitere zentrale Herausforderung: "Zu den strukturellen Problemen gehört, dass Entscheidungsverantwortung und digitalpolitische Kompetenz in Deutschland auseinanderfallen." Aufgrund fehlender eigener Kompetenz greife die Politik immer noch zu oft auf externe Berater zurück, doch die Qualität der Beratung könnten die Verantwortlichen gar nicht beurteilen.

Bernhard Rohleder vom Bitkom glaubt, die Ampel habe immer noch die Chance, in dieser Legislaturperiode etwas voranzubringen. Allerdings müssten dafür auch die angekündigten Schritte unternommen werden, etwa ein Digitalbudget zu schaffen, das im Koalitionsvertrag versprochen war: "Darauf warten wir bislang vergeblich, und es soll frühestens 2024 kommen." Für Oliver Süme vom eco ist nach einem Jahr klar: "Der erhoffte Turbo für die digitale Transformation in Deutschland ist bislang ausgeblieben, ein Paradigmenwechsel in der Digitalpolitik nicht erkennbar."

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Mittlerweile wandelt die Ampel auch beim Thema Flugtaxi auf den Spuren der Vorgängerregierung. Nachdem Wissing die batteriebetriebenen Flieger im Sommer noch geschmäht hatte, besuchte er im November den Hersteller Volocopter. Die frühere Digitalstaatsministerin Bär revanchierte sich für den Seitenhieb vom Sommer und kommentierte die Fotos von Wissing im Flugtaxi auf Twitter mit einem "*hüstel*".

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