iX 12/2017
S. 3
Editorial
Dezember 2017
Dr. Rüdiger Berlich

Raus aus der C++-Krise

C++ steckt in einer Krise. Anders als noch 1998 ist diese Sprache nicht mehr alternativlos und verliert zunehmend den Anschluss an den Stand der Technik. Ohne die faktisch unbezahlbare und seit der ersten Standardisierung von C++ andauernde Hilfe einer Armee hochmotivierter und -qualifizierter Freiwilliger in der Boost-Community wäre C++ heute möglicherweise bereits in der Bedeutungslosigkeit versunken. Die Open-Source-Analysten von Open Hub schätzen die Kosten für die Neuentwicklung der 23,6 Millionen Zeilen Code der Boost-Library auf 416 Millionen US-$.

Und in der Ausbildung an Universitäten und Fachhochschulen spielt C++ zumindest in Deutschland nur noch eine sehr untergeordnete Rolle. Dieses Feld hat Java übernommen, vielleicht mittlerweile gepaart mit Python. Motivierten Nachwuchs allein aus dem Kreis der verbliebenen Autodidakten zu rekrutieren, scheint aber keine gute Idee für eine Sprache zu sein, die älter als viele ihrer Nutzer ist und eben durchaus einige Komplexität besitzt.

Dem gegenüber steht die Perfektion, die C++ auf der reinen Sprachebene in fast 40 Jahren erreicht hat. Diese einfach wegzuwerfen, kann sich die IT-Gesellschaft nicht leisten. C++ repräsentiert nicht im weitesten Sinn, sondern wirklich im Wortsinne auch Kultur.

Man kann sich fragen, welchen wirtschaftlichen und sozialen Einfluss es auf eine auf der Informationstechnik aufbauende Gesellschaft hätte, wenn die wenigen Sprach- und die vielen Bibliothekslücken in C++ und Standardbibliotheken zeitnah gestopft würden. Wäre es dann so abwegig, nationale und EU-Mittel (und ähnliche Gelder anderer Hightech-Regionen) einmal nicht in die Grundlagenforschung zu investieren, sondern in die sie ermöglichenden „Enabling Technologies“ wie C++? Im globalen Rahmen ist eine knappe halbe Milliarde Dollar – der Preis von Boost dient hier als Maßstab für die benötigten Mittel – nicht sonderlich viel. Auf Vergleiche mit Stuttgart 21, der Elbphilharmonie oder dem Flughafen Berlin-Brandenburg sei hier verzichtet.

Und was spricht dagegen, Master-Studenten und Doktoranden der Informatik in Deutschland ihre Meriten (auch) einmal in der Bibliotheksentwicklung für Boost verdienen zu lassen? Schließlich tummelt sich dort die Crème de la Crème der Informatik. Welch besseres Umfeld kann es geben, um auf sich aufmerksam zu machen und gleichzeitig einen realen Beitrag zu leisten, als an Boost mitzuarbeiten? C++ könnte so wieder zur „goto-Sprache“ einer ganzen Generation von Entwicklern werden.

Und in einer zunehmend vom Pessimismus geprägten Zeit sei an dieser Stelle noch ein Herzenswunsch geäußert: Wenn C++ zwar auf der Sprachebene brilliert, es aber an standardnahen Bibliotheken für viele aktuelle Einsatzfelder fehlt, wie wäre es dann, sich mit der Python-Community zusammenzutun und ein Interface zwischen beiden Sprachen in die beiderseitigen Standards aufzunehmen? Die Rolle des Performance-Backends für Python füllt C++ bereits gut aus. Mit einer Formalisierung dieser Rolle hätte die C++-Community den Freiraum, die Kernsprache samt Basisbibliotheken weiter zu perfektionieren, ohne dadurch den Fokus auf aktuelle Themen zu verlieren. Und auch die Python-Community hätte durch eine solche symbiotische Zusammenarbeit erhebliche Vorteile. C++ wäre kein Moving Target mehr und könnte zu dem Kern von Python heranwachsen. Träumen ist erlaubt.

Unterschrift Dr. Rüdiger Berlich Dr. Rüdiger Berlich