iX 4/2022
S. 3
Editorial
April 2022

Cyberwar gegen Russland?

Es wäre so schön gewesen: Die konventionelle „Regionalmacht“ (so Barack Obama 2014 anlässlich des Einmarschs in die Krim), nukleare Supermacht und angebliche Cyber-Großmacht Russland führt, wenn sie schon meint, irgendwo einmarschieren zu müssen, den ersten echten hybriden Krieg weitgehend im Cyberraum. Dann hätten wir Techies nämlich die Welt retten können, und das vom Schreibtisch aus. Mutig hätten wir aus der Ferne die Panzer weggecybert, die Drohnen gezähmt oder wenigstens den digitotalen Krieg an der Heimatfront abgewehrt. Aber nichts da.

Bisher tröpfeln von russischer Seite nur vereinzelte DDoSen ein. Dafür werden thermobarische Raketenwerfer aufgefahren – TOS-1 statt DoS-404. Verunsichert fragen wir uns: Haben wir uns – und die Macht des Digitalen – überschätzt? Sollten wir nun erst recht zum Gegenschlag ausholen und gemeinsam mit von wem auch immer orchestrierten „Anonymous“ russische Kraftwerke und Staudämme hacken?

Das wäre nicht nur töricht, sondern auch gefährlich. Weniger für uns Cyberkrieger, aber für alle kritischen Infrastrukturen zwischen Wanne-Eickel und Moskau. Ein Hackback wird nicht dadurch unproblematischer, dass der Hin-Hack aus Granaten besteht.

Sind wir mit all unseren technischen Kompetenzen also dazu verdammt, Pakete mit Windeln und Hygieneartikeln zu packen und Gebete zu schicken? Nein! Es gibt viele Wege, wie wir als Computerbranche helfen können – wenn wir unsere Allmachtsfantasien erst einmal hinuntergeschluckt haben.

Wir könnten erstens unsere Fähigkeiten einsetzen, um in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld zu verdienen. Ja, richtig gelesen. Und es dann zielgerichtet spenden, an kleine Organisationen, die direkt vor Ort wirken. Effizienter geht nicht, Arbeitsteilung halt.

Wir könnten uns in den schon seit Jahren tobenden Informationskrieg einmischen und den Kampf gegen Trolle, Fake News und „PsyOps“ im Internet aufnehmen. Wenn im Krieg die Wahrheit das erste Opfer ist, ist deren Reanimation erste Netzbürgerpflicht. Das Zeitalter der Open Source Intelligence in der Hand der Zivilgesellschaft hat dabei gerade erst begonnen.

Wir könnten schließlich mithelfen, dass langfristig Gesellschaften wie die russische, die saudische, die chinesische – und auch die unsere – resilienter gegen die Feinde der Wahrheit, der Aufklärung und der Demokratie werden. Dafür braucht es Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ohne Backdoors, Technik, die die Privatsphäre schützt, kluge Regulierung und auf dem Weg dahin smarten politischen Lobbyismus international wie zu Hause.

Für eine neue Energiepolitik scheint Putins Angriff auf die Ukraine ein Weckruf zu sein. Wir sollten die schmerzhafte Erkenntnis, wie abhängig wir von „den Russen“ sind – und zwar nicht nur vom Gas, sondern vor allem davon, wie lange sie brauchen, um ihren Despoten zum Teufel zu jagen –, in Energie ummünzen, um den Gedanken der Freiheit und die Technik für die Freiheit überall zu stärken.

Pakete mit Windeln packen ist übrigens trotzdem erlaubt.

Dieser Kommentar erschien aus Aktualitätsgründen bereits am 4. März auf heise online.

David Fuhr

ist Head of Research bei der HiSolutions AG.

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