iX 10/2019
S. 84
Report
Internet

IPv6 – Problemlöser oder Innovationstreiber?

Der Not gehorchend

Benedikt Stockebrand

Das „neue“ Internetprotokoll setzt sich viel langsamer durch, als es sich seine Schöpfer vor einem Vierteljahrhundert erhofften – und Fortschritte gibt es nicht seiner technischen Vorteile wegen, sondern weil das Internet sonst einfach nicht mehr funktionieren würde. Unser Autor zieht ernüchtert Bilanz und appelliert an die Fantasie der Anwender und Entwickler.

Was auch immer am Internet um- und ausgebaut wird: Es muss sich an den Privatkunden orientieren, wenn es eine Chance haben soll. Und solange der Privatkundenmarkt wächst, können die Provider die Adressknappheit – und damit den Ausweg, die Umstellung auf IPv6 – nicht ignorieren.

Das heißt nicht, dass die Geschäftskunden keine Rolle spielen würden – und sei es als Anbieter von Content, Webshops und Ähnlichem. Aber viele IT-Leiter werden eine technische Notwendigkeit für den Umstieg auf IPv6 ohne unmittelbaren „­Business Case“ kaum ihren Geschäftsleitungen vermitteln können – selbst wenn sie noch Zeit haben, sich mit Themen zu beschäftigen, die weit über das Tagesgeschäft hinausgehen.

Dass viele ITler also vor grundlegenden Veränderungen wie IPv6 zurückschrecken, ist nachvollziehbar. Trotzdem hat es hier in den letzten fünfzehn Jahren deutliche Fortschritte gegeben, auch weil IPv6 Einzug in Ausbildung und Lehre gehalten hat und damit auch mit dem Techniknachwuchs in den Unternehmen ankommt.

Viel Vertrauen verspielt

Der Ausbau des Internets liegt in den Händen einer Providerbranche, die eng kalkulieren muss und durch fragwürdige Geschäftspraktiken im Stil von „garantierten Bandbreiten bis zu“ und volumenbeschränkten „Flatrates“ viel Vertrauen ihrer Kunden verspielt hat. Vorausschauende Investitionen sind kaum möglich, wenn die Kunden der Branche insgesamt misstrauen und im Zweifelsfall immer das billigste Angebot wählen. Und damit fehlt auch den Netzwerkausrüstern die notwendige Kundenbasis zum Entwickeln einer sauberen und entsprechend aufwendigen Migration von IPv4 nach IPv6.

Stattdessen wird improvisiert: Carrier Grade NAT (CGN), typischerweise in Kombination mit einem IPv4-in-IPv6-Tunnel als Dual-Stack Lite (DS-Lite), ist insbesondere an den Anschlüssen der Kabelprovider, die vergleichsweise stark wachsen, heute traurige Realität. Möglichkeiten wie ein „Reverse NAT“, um mit DynDNS zusammen eigene Dienste wenigstens notdürftig hinter einem Anschluss zu betreiben, oder auch SIP zu einem unabhängigen Voice-over-IP-Anbieter fallen damit weg, Verbindungsabbrüche durch überlastete CGN-Gate­ways kommen stattdessen hinzu. Und mit Lightweight 4over6 (lw4o6, RFC 7596) ist die nächste derartige „Lösung“ bereits spezifiziert, implementiert und zumindest in Ostasien im Einsatz.

Auch in den Mobilfunknetzen ist vom eigentlich unerschöpflichen Adressvorrat wenig zu bemerken: Das hier bevorzugte Verfahren heißt 464XLAT und unterscheidet sich von DS-Lite im Wesentlichen dadurch, dass es pro Anschluss nur ein einzelnes Endgerät erkennt. Das vereinfacht das Protokoll erheblich, solange niemand versucht, mehrere Geräte per Tethering hinter einem Mobilgerät anzuschließen. Damit geht so viel Verdruss einher, dass Apple mittlerweile von Apps, die neu im App Store erscheinen sollen, die Implementierung von nativem IPv6 verlangt.

Die Provider müssen einerseits IPv6 einführen, um überhaupt diese Proviso­rien implementieren zu können. Andererseits spart jedes native IPv6-Paket, das nicht derartige Umwege nehmen muss, sowohl beim Betrieb der teuren Infrastruktur als auch beim Kundensupport bares Geld. Die angeblich so innovative IT-Branche musste sich erst durch diese Entwicklung zu IPv6 zwingen lassen und hat sich damit ein Armutszeugnis ausgestellt. Doch immerhin ist nun der langjährige Deadlock durchbrochen, dass alle darauf gewartet haben, dass jemand anderes den ersten (Investitions-)Schritt vollzieht.

Bei den privaten Endkunden ist, dank sinnvoller Voreinstellungen bei der Masse der Heimrouter einerseits und Windows ab Vista andererseits, IPv6 allgemein etablierter Standard, ohne dass man dazu noch etwas konfigurieren müsste. Anders sieht es dagegen bei den „kleinen“ Geschäftskundenanschlüssen auf DSL- oder Kabelbasis aus, an denen die Anbieter ihren Kunden zwar typischerweise DS-Lite und Ähnliches ersparen, aber teilweise im Gegenzug auch auf das – damit ja „überflüssige“ – IPv6 verzichten.

Bei den großen Content- und Dienste­anbietern in der Liga von Google/­YouTube (Abbildung 1), Netflix und Facebook ist IPv6 ähnlich weit gediehen wie bei den Shared-Platform-Angeboten von Strato und Web.de mit ihren Webseitenbaukästen.

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