iX 11/2020
S. 36
Markt + Trends
Kolumne

Spreadsheets töten

Die Excelend-Initiative

David Fuhr

Wenn Zahlen die Basis für weitreichende Entscheidungen bilden, sind zuverlässige Programme das Allerwichtigste. Nicht nur deswegen ist es Zeit, das verstaubte Excel endlich zu entsorgen, meint der Kolumnist.

Anfang Oktober ging ein Seufzer der Erleichterung durch die kollektive britische Lunge. Zwar waren die SARS2-Infektionszahlen weiter angestiegen, immerhin aber doch nicht so stark wie allgemein befürchtet. Leider wurde die Verlangsamung jedoch nur auf dem Papier erreicht, oder besser gesagt in (fehlenden) Bits und Bytes auf einem Büro-PC des britischen Gesundheitssystems NHS: Die Office-Anwendung Excel hatte innerhalb einer Woche fast 16000 Zeilen Testergebnisse ins Nirvana geschrieben und damit die Benachrichtigung Tausender potenziell Corona-Infizierter um Tage verzögert. Ein Safety-­kritischer Incident durch ­einen Fehler in der Büro-IT? So etwas passiert nicht alle Tage.

Die Affäre samt verdientem Eklat ist natürlich nur die neueste Instanziierung eines seit Langem bekannten systemischen Problems: Seit Jahrzehnten werden die eigentlich wichtigen Fachanwendungen der meisten Behörden und Unternehmen in MS Excel „programmiert“. Secure Development Lifecycle: Nö. Compliance: Nix. Change Management: Nada. Auch wenn Institutionen wie die European Spreadsheet Risk Interest Group (EuSpRIG) seit fast 20 Jahren versuchen, das Risiko dieser wuchernden Schatten-DevOps von innen in den Griff zu bekommen, verbreiten sich die Sheets und Makros schneller und tiefer, als CISOs sie überhaupt finden können.

Nomen est omen

Lust und Schmerz des ganzen Prozesses der Anwendungsentwicklung „von unten“ drücken sich häufig schon in den Dateinamen der schuldigen Sheets aus (2020-10-12b_conv1_final-­ohnePiwot_jahreslauf_WICHTIG-fibu-v0.3_Müller3_copy2.xlsx.bak.xls). Sie zeugen von geglückten und missglückten Backups, Neustarts, Gabelungen, Kämpfen und fühlbar viel Schweiß und Blut sachbear­beitender Hände. Was hier schmerzhaft sichtbar wurde, ist nichts weniger als die Spitze des Eisbergs einer gigantischen Schattenwelt – weltweit hängen NGOs, Abteilungen, Behörden, Konzerne an selbst gestrickten VBA-Skripten wie Junkies an ihrem Stoff.

Das ist kein Zufall, steht Microsofts beliebtestes und nach Meinung nicht weniger Experten bestes Produkt doch für eine Revolution, die Anfang der 1980er mit Multiplan begann: Der Großrechner war die Befähigung für Forscher wie Militärs und später auch Banken, wundersame Erfindungen verrückter Genies kontrolliert nutzen zu können. Der PC war die Ermächtigung von Millionen von Nutzern, die Power des Großrechners am Arbeitsplatz oder sogar zu Hause beschwören zu können. Die Cloud ist das Heilsversprechen an IT-Verantwortliche, gegen Einwurf von Münzen große IT-Betriebe herumkommandieren zu können, ohne ein Rechenzentrum bauen zu müssen, und Kubernetes ist der Größenwahn, aus Luft und einer Kreditkarte selbst modernste Data Centers erschaffen zu können.

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Und Excel? Die Anwendung mit dem selbstbewusstesten Namen überhaupt („überlegen sein“) ist die Code gewordene andauernde Revolte, in deren Verlauf die User den (uns) Entwicklern die Monopolstellung abgegraben haben – eine Entmachtungs- und Ermächtigungsbewegung, die den (uns) IT-Verantwortlichen seitdem mächtig Ärger macht. Das erklärt auch, warum sich die Nutzerinnen und Nutzer ihre selbst verschuldete Mündigkeit nicht so leicht wieder nehmen lassen. Schön blöd wären sie auch, freiwillig in die Ketten von An­forderungsdefinitionen, Softwarebeschaffungsanträgen und Change Requests zurückzukehren. Niemals wird Herr Müller aus Abteilung B3 des internen Controllings der Unterregistratur des Vertriebsbezirks Nordost ohne Zwang wieder zum Datenschubser der Algorithmen anderer werden!

Und das soll er auch gar nicht. Denn im Grunde füllt Spreadsheet-Software, neuerdings zusammen mit einigen wenigen Cloud-Anwendungen, in Kooperation mit den Be­dienern als „Human Middleware“ die Bedarfslücken, die die „richtige IT“ nicht hat schließen können oder wollen.

Ex-Elend

Was brauchen wir also? Nichts weniger als eine Excel-End-­Initiative! Das unkoordinierte Gefrickel gefährdet offensichtlich Datenschutz und bisweilen Safety. Das größte Risiko wäre es allerdings, den Usern ihre Gestaltungsmöglichkeiten wegzunehmen. Krieg wäre die Folge, und ich wage zu pro­gnostizieren, dass er nicht gut für „die IT“ ausgehen würde. Und trotzdem muss Softwareentwicklung in SVERWEIS und ANZAHL2 sterben, damit Grassroot-Dev (ohne Ops, denn das hätten „wir“ tatsächlich gerne zurück) leben kann. Ein Waffenstillstand reicht hier nicht. Um den Krieg zu vermeiden, müssen wir als „IT“ (will heißen, wir als Dev und als Ops) ein Angebot für einen attraktiven Friedensvertrag machen.

Beim NHS bestand die Lösung der findigen Schatten-­IT-Boxer darin, die Corona-Testergebnisse auf mehr .xls-Dateien zu verteilen. Mir schwebt allerdings ein anderes „Teile und herrsche“ (gemeinsam) vor: Geben wir der Kreativität der Nutzerinnen und Nutzer Raum! Immerhin kennen die sich mit den zu bearbeitenden Problemen am besten aus. Und geben wir ihnen Werkzeuge an die Hand, mit denen sie sich auf sichere Art und Weise – und mit mindestens so viel Spaß wie mit VBA! – austoben können.

PS: Keine Sorge: Für uns bleibt immer noch genug Arbeit. (ur@ix.de)

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