iX 12/2020
S. 3
Editorial
Dezember 2020

Von Dementis und Demenz

Manchmal weiß man einfach: „Es muss Montag sein“, schon vor dem Aufstehen. Das Smartphone piept, ein Freund schickt einen Link zum österreichischen Frühstücks­radio bei FM4 und fragt mich: „Die spinnen doch in Brüssel, oder?“ Es geht um ein Verbot von Verschlüsselung in Chatdiensten, eine angeordnete Backdoor in Signal, WhatsApp, Telegram und Threema. Es grüßt das Murmeltier, ­widerwillig quält man sich aus dem ­Bett. Nein, die spinnen nicht, das ist Kalkül, Framing, Absicht.

Wie zu erwarten dauert es nicht lange, bis das Dementi aus der Politik eintrifft: Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten, alles nur ein Missverständnis, natürlich muss niemand Hintertüren einbauen, wie das verklausuliert in der ­Beschlussvorlage steht. Das Innenministerium will selbstverständlich keinen Master Key, mit dem diverse Dienste wieder alles mitlesen können wie handgeschriebene Briefe in der DDR. Das wäre ja nachgerade dumm. Wo kämen wir denn da hin, wenn alle Welt quasi nur noch Postkarten verschicken dürfte? Nein, nein, alles gut, das würde die Menschen doch nur verunsichern. Das Wort fürs Abstreiten, „Dementi“, wurde übrigens schon im 18. Jahrhundert vom französischen „für falsch erklären“ übernommen. „Mentir“, der Stamm des ­Wortes, bedeutet „lügen“ – Demenz ­dagegen stammt direkt vom lateinischen Wort für „geistesschwach“.

Aber der Reihe nach: Nach den jüngsten Terroranschlägen mehrten sich wie üblich reflexartige Forderungen von Law-and-­Order-Hardlinern, doch endlich etwas gegen verschlüsselte Kommunikation zu unternehmen, die ja bekanntermaßen vor allem Kriminelle(n) nutze(n), also auch der Einzeltäter von Wien. Angesichts des Versagens des österreichischen Verfassungsschutzes leakte der ORF am ersten Novemberwochenende eine ­geheime Deklaration des Ministerrats, der zufolge sich die Regierungen der ­Mitgliedsstaaten verständigt haben, ­sichere Verschlüsselung EU-weit zu verbieten. Binnen weniger Tage wolle man den Beschluss durchwinken, kritische Änderungen haben sich erst nach dem Wiener Attentat ein­geschlichen.

Eingeschlichen? Sicher nicht, auch wenn das Innenministerium schon am Dienstagmorgen dementiert. „Einen möglichst geringen Eingriff“ wolle man, „Sicherheit durch Verschlüsselung und Sicherheit trotz Verschlüsselung“. Klar. ­Vermutlich, nein, hoffentlich haben ­Lobbyisten aus der Wirtschaft noch mal ­angeklopft und ihre Bedenken angemeldet. Hoffentlich richtig laut. Medial ­liefen Verbände sofort Sturm – aus der Wirtschaft etwa der eco Verband, auch die Experten des CCC kritisierten das Vorhaben heftig und sprechen von ­„digitaler Steinzeit“.

Aber all das ist erwartbar, und dass die Kritiker recht haben, zeigen aktuelle Beispiele wie die NSA-Backdoor in ­Juniper-Produkten, die Indizien zufolge von China benutzt wurde, um deutsche Firmen auszuspähen. Hintertüren werden übernommen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Nicht immer nur von den Guten, den Geheimdiensten und Strafverfolgern, sondern gerne auch von Cyberkriminellen. Ebenso sicher ist aber auch, dass Innenpolitiker trotzdem reflexartig danach trachten, Grundrechte und Freiheiten einzuschränken, scheinbar gegen alle Vernunft.

Im Englischen gibt es dafür das Bild der „ratchet“ – eine Ratsche mit Sperrvorrichtung, beispielsweise Kabelbinder. Die Ratchet ist ein fester Bestandteil des Sicherheitstheaters, das Politiker veranstalten, weil sie Wahlen gewinnen wollen. Jedes Mal, wenn etwas passiert, zieht man die Kabelbinder enger, ein ­Zurück gibt es nicht. Wenn dann wieder ein ­Anschlag verübt wird, kann man sagen, „man habe alles getan“, obwohl man nichts wirklich Sinnvolles unternommen hat. Schuld sind die anderen, die „Bedenkenträger“ – Trumpismus pur. Verdächtig zeitgleich mit den US-Wahlen finden sich noch weitere aktuelle Beispiele: Fingerabdrücke im Personalausweis werden jetzt verpflichtend, Vor­schrif­ten zur Terrorismus­bekämpfung entfristet. 

Ich bin ja ein großer Verfechter von „Hanlons Rasiermesser“, einem Internetgesetz, das besagt, man solle nicht immer böse Absicht unterstellen, wenn doch meist nur Inkompetenz am Walten sei. In Fällen wie diesen bin ich aber davon überzeugt, dass die Akteure sehr genau wissen, was sie tun.

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