iX 12/2021
S. 3
Editorial
Dezember 2021

DSGVO tötet. Nicht.

Dass wir Deutschen einen Hang dazu haben, gerne mal übers Ziel hinauszuschießen, ist bekannt. Das führt dazu, dass europäische Gesetze und Verordnungen hierzulande gelegentlich so penibel ausgelegt werden, dass aus der ursprünglichen, gut gemeinten Intention komplette Handlungsunfähigkeit zu werden droht.

Beispiel: Kurz vor Inkrafttreten der Datenschutz-Grundverordnung wurde landauf, landab anhand aller möglichen Szenarien wild heruminterpretiert, was noch geht und was nicht. In Arztpraxen dürften die zu Behandelnden nicht mehr namentlich auf- und zur Frau Doktor hineingerufen werden, sagten einige. Wegen des Datenschutzes. Jeder, der schon mal mit einem Wehwehchen in einer Massenabfertigungspraxis auf dem Wartestuhl saß, ahnt, wie das ausgehen könnte.

Beispiel: Man müsse an allen Häusern sofort die Namensschilder entfernen, sagten andere. Wegen des Datenschutzes. Klingt wie Satire, wurde aber ernsthaft diskutiert. Das gesamte Postwesen könnte man dann im übrigen gleich mitentsorgen.

Jüngster Coup in der Laien-DSGVO-Auslegung: Der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) Dietmar Pennig warnt, dass die DSGVO Menschenleben gefährden könne – etwa wenn ein verunfallter bewusstloser Patient nicht die Einwilligung zur Übermittlung schnell benötigter Krankendaten wie Blut- oder EKG-Werte aus dem Krankenwagen an das behandelnde Krankenhaus geben könne und deswegen wertvolle Zeit verloren gehe. Er fordert eine entsprechende Anpassung der Datenschutzregeln.

Das ist, mit Verlaub, Bullshit. Man mag manche Gesetze beziehungsweise ihre unzulängliche Umsetzung kritisieren, Fakt ist jedoch, dass der Gesetzgeber damit eine bestimmte Absicht verfolgt. In diesem Fall den Schutz der EU-Bürgerinnen und -Bürger vor dem übergroßen Datenhunger der Techkonzerne, denen Internetnutzer gar nicht gläsern genug sein können. Und die Datenschutzaufsichtsbehörden wiederum sorgen dafür, dass auch der staatliche Datensammel- und Überwachungswahn in kontrollierte Bahnen gelenkt wird.

Die Annahme, der Gesetzgeber könnte den Tod von Menschen wegen einer fehlenden Einwilligung in Kauf nehmen, um uns vor unbefugten Werbeanrufen zu schützen, ist selbst für das hypergesetzestreue Deutschland absurd. Die DSGVO bietet genug Ausnahmen für Notfälle.1 Eine Datenverarbeitung in solchen Notlagen ist erlaubt, wie der (in Coronazeiten auch wegen weiterer falscher Datenschutzbehauptungen) leidgeprüfte Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber entnervt twittert, das sei „tausendmal geklärt“.

Statt also Unwahrheiten zu verbreiten und ein Gesetz zu verunglimpfen, das in der noch jungen Geschichte der ausufernden Datensammelwut ein Bewusstsein für Datenschutz und Privatsphäre geschaffen hat wie kein anderes zuvor, sollte man das tun, was man gut kann, in diesem Fall Menschenleben retten. Und die Auslegung lieber den Datenschützern überlassen. Diese wiederum sollten endlich mit aller Härte gegen die wirklich datensaugenden Internetgiganten vorgehen und gegebenenfalls hohe Bußgelder verhängen. Im Vergleich zu manchen europäischen Nachbarn agieren die Behörden hierzulande nämlich noch deutlich zu milde.2

1 zum Beispiel in Artikel 9 Absatz 2, für Pennigs Beispiel Abschnitt c

2 siehe Artikel „Sanktioniert“ Seite 84

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