Digital Health: "Gesundheitsdaten gehören auch dem Gesundheitssystem"

Die Interoperabilitäts-Expertin Sylvia Thun bricht im Interview mit heise online eine Lanze für die Forschung mit Gesundheitsdaten.

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Futuristisches Bild von einem Arzt, der Daten einträgt

(Bild: PopTika/Shutterstock.com)

Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Christiane Schulzki-Haddouti
Inhaltsverzeichnis

Sowohl die EU-Kommission als auch die Bundesregierung treiben nach der Pandemie die Digitalisierung des Gesundheitswesens voran. Viele Patientendaten können nicht nur in der Versorgung, sondern sollen auch pseudonymisiert und anonymisiert für die Forschung genutzt werden. Dafür setzt sich die renommierte Interoperabilitäts-Expertin Sylvia Thun ein, die an der Berliner Charité forscht und auch die Arbeiten großer IT-Konzerne wie Google und SAP im Gesundheitsbereich kennt.

heise online: "Meine Daten gehören mir!" Fühlen Sie sich von diesem Slogan provoziert?

Sylvia Thun: Ja, denn wenn ich krank bin, bin ich darauf angewiesen, dass ich die bestmögliche medizinische Behandlung erhalte. Dann erwarte ich auch, dass die Ärzte mit qualitativ hochwertigen, evidenzbasierten Daten arbeiten.

Natürlich kann man daraus ableiten: Die Daten gehören nicht mehr mir allein, sondern auch einer Gesellschaft, die ethisch dahintersteht, dass Daten für die medizinische Forschung und Behandlung genutzt werden. Prinzipiell ist es natürlich richtig, dass personenbezogene Daten erstmal der Person selbst gehören. Aber man kann diese durchaus im Sinne des Gemeinwohls teilen.

Was sagen Sie zu dem Gerücht, dass ihre Studierenden Daten spenden müssen?

Wir machen natürlich Tests in unserem Testlabor und werten zum Beispiel EKG-Daten aus. Ich habe meine EKG-Daten gesammelt und abgegeben und drei weitere Mitarbeiter auch. Es muss natürlich kein Studierender Daten abgeben. Es ist aber so, dass wir ein juristisches Dokument mit einer Einwilligung haben ausarbeiten lassen und Daten anonymisieren. Wir hatten alle wunderschöne EKGs, aber die Testgruppe war zu klein und zu gesund. Natürlich kann man auch woanders Daten spenden, etwa an wissenschaftliche Projekte bei Apple. Das haben wir noch nicht erprobt. Auch das RKI führte während der akuten Coronazeit eine Datenspende via App ein, die gut genutzt wurde und Erkenntnisse generierten, die am RKI eingesehen werden konnten.

Mehr Infos

Sylvia Thun ist Universitätsprofessorin an der Charité in Berlin und Direktorin für E-Health und Interoperabilität am Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH) der Stiftung Charité. Die approbierte Ärztin und Ingenieurin für biomedizinische Technik forscht zur Nutzung von Forschungsdaten, etwa in der elektronischen Patientenakte und dem E-Rezept. Sie ist Expertin für nationale und internationale IT-Standards im Gesundheitswesen. Sie leitet den InteropCouncil, das nationale Expertengremium für Interoperabilität.

Dahinter steht der Anspruch, dass Daten, wenn sie genutzt werden, gemeinwohlorientiert genutzt werden. Was muss erfüllt sein, damit die Daten gemeinwohlorientiert Verwendung finden? Der Nutzen muss im Vordergrund stehen. Wer hat welche medizinische und wissenschaftliche Fragestellung? Aber auch da gibt es einen Paradigmenwechsel: Man hat jetzt meist keine einzelne Frage mehr und schaut, wo die Antwort in den Daten zu finden ist. Vielmehr kann ich auf einer großen Daten-Plattform Veränderungen in den Daten beispielsweise aufgrund von Pandemien oder Wetterveränderungen sehen. Es lassen sich auch Modelle abbilden und Algorithmen darauf anwenden, um bislang unbekannte Fragen zu beantworten.

Können Sie das an einem konkreten Beispiel erklären?

Zum Beispiel kann man in den Datensätzen für Laborbefunde einen klaren Unterschied zwischen Männern und Frauen bezüglich Corona-assoziierter Entzündungsparameter sehen. Männer sind tatsächlich schwerer krank. Vielleicht gibt es ja sogar eine "Männergrippe", aber für deren Erforschung braucht man weitere Daten.

Beruhen nicht viele Behandlungsleitlinien auf Daten, die ein geschlechtsspezifisches Bias haben?

Dazu gab es in den vergangenen fünf Jahren immer mehr Publikationen in fast allen Bereichen der Medizin. So hat man etwa aufgrund von Datenanalysen festgestellt, dass die Symptome bei einem Herzinfarkt bei einer Frau komplett anders sind als bei einem Mann. In den Leitlinien und Lehrbüchern nimmt man aber bis heute an, dass die Symptome gleich sind, wobei man von den Symptomen des Mannes ausgeht. Dementsprechend kommt es dann zu Fehlbehandlung, was tatsächlich zu mehr Todesfällen bei Frauen führt.