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Portfolio Tobi Müller – Eine Ruhrpott-Dystopie 0 Kommentare

Hendrik Vatheuer

Hauptbahnhof Duisburg Contax G1 | Carl Zeiss 45 mm f/2.0 | Kodak Portra 400

(Bild: Tobi Müller)

Analogfotografie aus dem Ruhrgebiet: Keine Menschen, dichter Nebel und dystopische Atmosphäre charakterisieren die Bilder von Tobi Müller.

Menschenleere Bahnsteige, dazwischen zwei Gleise, ein Flachdach und eine eigenwillige Konstruktion aus grauen Stahlträgern und schmutzigem Glas, im Hintergrund dichter Nebel – ein atmosphärisches Bild mit einer bestimmten Tristesse. Viele Bilder von Tobi Müller haben diesen melancholischen Unterton, der sich zum einen aus seiner Motivlandschaft, dem Ruhrgebiet, ergibt und zum anderen aus der Körnigkeit und Farbigkeit seiner analogen Fotos.

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Tobi Müller fotografiert am liebsten analog.

(Bild: Tobi Müller)

Der analoge Look ist das, was Müllers Bilder ausmacht: die Farben, das Korn und die Kontraste, die hervorragend zu seiner Motivwelt passen. Dabei ist die Analogfotografie [12] für ihn aus mehreren Gründen etwas Besonderes. Zum einen hat sie etwas sehr Organisches. Es ist nicht nur das haptische Erlebnis, den Film einzulegen, zu fotografieren, zu spannen und so weiter, sondern auch das analoge Bild, also der Film mit seinem Korn und seinen natürlichen Farben, das ihn begeistert. Ein anderer wichtiger Aspekt ist die Begrenztheit der analogen Fotografie – auf einen Kleinbildfilm passen etwa 36 Bilder, auf einen Rollfilm nur zwölf oder weniger. Im Gegensatz zur Digitalfotografie, die fast grenzenlos erscheint, möchte man kein Bild unüberlegt schießen, denn jedes kostet viel Geld. Zudem gibt es für Müller in der Analogfotografie auch ein Spannungsfeld zwischen zwei Polen, das er wie folgt beschreibt: "Diese Art zu fotografieren strahlt sowohl Ruhe als auch Lebendigkeit aus. Danach sehnen sich, glaube ich, allgemein viele Menschen, deswegen stirbt auch die Schallplatte nicht." Dieser Vergleich mit anderen analogen Techniken wird gerne gezogen, insbesondere der zum Vinyl und seinem Hype der vergangenen Jahre ist häufig zu hören.

Hauptbahnhof Duisburg Contax G1  Carl Zeiss 45 mm f/2.0  Kodak Portra 800, Tobi Müller

Hauptbahnhof Duisburg
Contax G1 | Carl Zeiss 45 mm f/2.0 | Kodak Portra 800

(Bild: Tobi Müller)

Müller fand 2019 zur Fotografie, als er sich seine erste analoge Kamera kaufte. Dann kam die Corona-Pandemie und er hatte viel Zeit zum Spazierengehen, natürlich immer mit der Kamera, sodass sich das Fotografieren allmählich zu seiner großen Leidenschaft entwickelte. In dieser Zeit hat ihm Social Media, speziell Instagram, geholfen, seine Fotografie voranzutreiben. Aber auch die analoge Fotografie als Szene habe von Instagram profitiert, da es eben keine Ausstellungen, keinen persönlichen Austausch und keinen Ort gab, an dem man sich hätte vernetzen können. So ist es nicht verwunderlich, dass auch wir über Instagram auf Tobi Müller und seine Bilder aufmerksam wurden – dort heißt er "geldbier".

Hauptbahnhof Duisburg Contax G1  Carl Zeiss 45 mm f/2.0  Kodak Pro Image 100, Tobi Müller

Hauptbahnhof Duisburg
Contax G1 | Carl Zeiss 45 mm f/2.0 | Kodak Pro Image 100

(Bild: Tobi Müller)

Auch die analoge Kameratechnik vergangener Zeiten begeistert Müller. Bereits einfache Kameras und Objektive erweitern die kreative Freiheit [13]. Und so ist es nicht verwunderlich, dass er ganz unterschiedliche Modelle in seiner Fotoausrüstung hat: Seine erste analoge Kamera war eine Rollei XF35, eine simple Kompaktkamera mit Messsucher, die zwischen 1976 und 1980 hergestellt wurde. Als "Immer-dabei-Kamera" nutzt er eine Olympus mju II, die 1996 auf den Markt kam und als Point&Shoot-Kamera nicht nur wegen ihres schnellen Autofokus und des scharfen Objektivs in letzter Zeit einen regelrechten Boom erlebt hat. Müllers Lieblingskamera ist jedoch die Contax G1 mit einem 45-mm-2,0-Zeiss-Objektiv. Diese analoge Messsucherkamera mit Autofokus kam 1994 auf den Markt. Sie ist bei vielen Analogfotografen wegen ihrer hervorragenden Optik, ihres auffälligen Designs und ihrer guten Bedienbarkeit äußerst beliebt. Als Mittelformatkamera dient ihm eine Mamiya 645E, die von 2000 bis 2006 als Einsteigerkamera hergestellt wurde und Bilder im Format 6 × 4,5 cm aufnimmt. Was die Filme betrifft, so hat Müller schon viele ausprobiert und verwendet, meistens die, die gerade auf dem Markt sind. Sein Lieblingsfilm jedoch ist der Portra 800 von Kodak, den er trotz des Preises von inzwischen 19 Euro pro Film gerne nutzt.

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Das Analoge passt auch perfekt zu Müllers Art zu fotografieren. Denn er versucht stets, unscheinbare Motive aufzuspüren, die richtig inszeniert eine besondere Wirkung entfalten können. Dafür ist er viel mit der Kamera unterwegs und immer auf der Suche nach möglichen Spots und Motiven, gerne auch mit Google Maps. Die besten Fotos entstehen für ihn jedoch spontan auf seinen Fotostreifzügen. Denn gerade das erste Foto eines Walks ist wichtig, um in den Prozess zu kommen, also nicht lange überlegen, sondern einfach draufhalten.

Ruhrdeich Duisburg Canon EOS 30  40 mm f/2.8  Fujifilm C200, Tobi Müller

Ruhrdeich Duisburg
Canon EOS 30 | 40 mm f/2.8 | Fujifilm C200

(Bild: Tobi Müller)

Zwar lässt er sich auch von Fotoserien leiten und arbeitet meist an unterschiedlichen Themen, wie einer Serie über den Bahnhof oder andere Transit-Orte, jedoch spielt bei seiner Arbeitsweise ein anderer Aspekt noch eine wichtige Rolle: "Durch die analoge Fotografie denkt man auch in Filmen. Ich überlege vorher, welcher Film für die jeweilige Session passt, und versuche dann, einen Film voll zu bekommen, sodass sich ein ähnlicher Charakter durch die 36 Bilder zieht."

A448 BochumContax G1  Carl Zeiss 45 mm f/2.0  Portra 400, Tobi Müller

A448 Bochum
Contax G1 | Carl Zeiss 45 mm f/2.0 | Portra 400

(Bild: Tobi Müller)

Und selbstverständlich spielt Licht eine entscheidende Rolle, in letzter Zeit aber auch Nebel. Den sieht man in vielen seiner Bilder und er ist ein wichtiges Stilmittel, das den eigentlich profanen Motiven wie Bahnhöfen, Brücken und Autobahnen eine diffuse und auch etwas geheimnisvolle Stimmung verleiht.

Ruhrdeich Duisburg  Canon EOS 30  40 mm f/2.8  Fujifilm C200, Tobi Müller

Ruhrdeich Duisburg
Canon EOS 30 | 40 mm f/2.8 | Fujifilm C200

(Bild: Tobi Müller)

Imbissbude Duisburg NeudorfContax G1  Carl Zeiss 45 mm f/2.0  Kodak Portra 400, Tobi Müller

Imbissbude Duisburg Neudorf
Contax G1 | Carl Zeiss 45 mm f/2.0 | Kodak Portra 400

(Bild: Tobi Müller)

Das Ruhrgebiet gilt zwar nicht als die schönste Region Deutschlands, zumindest nicht im klassischen Sinne, aber der sogenannte "Pott" bietet Fotografen unzählige Motive. Sei es für die Street-, die Landschafts- oder auch die Architekturfotografie. Die hier präsentierten Bilder bringen alle drei Genres zusammen. Müllers Aufnahmen vom Duisburger Hauptbahnhof, der als einer der marodesten Bahnhöfe im Ruhrgebiet gilt und deshalb bis 2028 komplett saniert werden soll, zeigen auf interessante Weise eine Architektur, die weder schön noch heil ist. Aber genau das macht ihren Reiz aus, denn die Klebestreifen, mit denen die zerbrochenen Fensterscheiben zusammengehalten werden, machen das Bild auffällig und speziell. Müller dazu: "Das Motiv hat mich total motiviert. Daran habe ich gelernt, was Lichtverhältnisse und unterschiedlicher Film ausmachen können. Außerdem ist das Gleis inzwischen umgebaut und die Scheiben sind weg, dadurch bekommt das Foto auch einen nostalgischen Wert."

Trinkhalle Duisburg Neudorf Contax G1  Carl Zeiss 45 mm f/2.0  Kodak Portra 800, Tobi Müller

Trinkhalle Duisburg Neudorf
Contax G1 | Carl Zeiss 45 mm f/2.0 | Kodak Portra 800

(Bild: Tobi Müller)

Viele von Müllers Bildern sind entweder Aufnahmen einer Ruhrgebietslandschaft, die von Autobahnen, Zubringerbrücken und Strommasten geprägt ist, oder eben Bilder von typischen urbanen Orten im Pott wie Pommesbuden, Spielhallen oder eben Trinkhallen. Für ihn gibt es in der Region viel zu entdecken und so lässt er sich nicht auf ein fotografisches Genre festlegen. Müller, der in Duisburg geboren und aufgewachsen ist und heute in Bochum lebt, sagt über die größte Metropolregion Europas: "Das Ruhrgebiet allgemein ist einfach besonders, ich glaube, entweder wird man hier verschlungen oder man lernt, es zu lieben. Hier ist vieles marode, nahezu dystopisch, aber dadurch auch sehr cineastisch."

KöPi Duisburg RheinhausenContax G1  Carl Zeiss 45 mm f/2.0  Cinestill 800T , Tobi Müller

KöPi Duisburg Rheinhausen
Contax G1 | Carl Zeiss 45 mm f/2.0 | Cinestill 800T

(Bild: Tobi Müller)

(vat [15])


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[13] https://www.heise.de/ratgeber/Analoge-Fotografie-Einfache-Kameras-und-Objektive-fuer-mehr-kreative-Freiheit-4958596.html
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