iX 8/2018
S. 84
Report
Digitalisierung
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Digitale Konkurrenz frühzeitig erkennen

Jenseits des Tellerrands

Immer mehr traditionelle Branchen werden von neuer digitaler Konkurrenz bedrängt. Wie kann man branchenfremde Wettbewerber erkennen, bevor sie zum Problem werden?

Amazon setzt den Einzelhandel unter Druck. Uber greift die Taxiwirtschaft an. Facebook beeinflusst die Medienbranche. Airbnb attackiert das Gastgewerbe. Vor diesem Hintergrund empfiehlt der Bitkom in seinem Leitfaden zur Digitalisierung: „Schauen Sie über den Tellerrand“ (siehe ix.de/ix1808084).

Bemerkenswert an den genannten Beispielen ist, dass die digitalen Firmen nicht als ein neuer Wettbewerber unter vielen auftreten, sondern gleich eine ganze Branche infrage stellen. Um solche Extremfälle soll es hier nicht gehen, denn neben diesen großen Beispielen gibt es unzählige kleine, die zeigen, dass etablierte Unternehmen durch digitale Newcomer Konkurrenz erfahren können. Mit „klein“ ist gemeint, dass der Einfluss nicht existenzbedrohend ist, sondern „lediglich“ Marktanteile kosten kann. Manchmal handelt es sich dabei um Fälle von neuen Produkten oder Dienstleistungen, die einen Markt (meist nach unten) abrunden.

Mit dem Smartphone scannen

Beispiel: Wer nur zweimal im Jahr einen Brief einscannen möchte, wird sich keinen Hochleistungsscanner mit Einzelblatteinzug kaufen. Für Gelegenheitsnutzer gibt es kostenlose Scan-Apps, die das Smartphone zu einer nicht vollwertigen, aber oft ausreichenden Alternative zu physischen Geräten machen. Wer sich an den von der App eingeblendeten Hinweisen der Art „Scanned with …“ oder an Werbung stört, zahlt ein paar Euro und bekommt lupenreine Scans ohne störende Werbebanner.

Eine wirkliche Bedrohung für Scanner-Hersteller scheint von den Apps nicht auszugehen. Möchte ein Gerätehersteller zum jetzigen Zeitpunkt jedoch jeglichen Bedarf für Scanning befriedigen, ist das Marktsegment mit Scan-Apps inzwischen besetzt. Eine Chance, den eigenen Markt zu erweitern, ist damit vielleicht vertan. Mit Blick auf die geringen Umsätze von Apps ist das kein Problem. Jedoch gibt es zahlreiche Beispiele anderer Branchen, in denen ein neuer Anbieter von zunächst weniger leistungsfähigen Lösungen (entsprechend der Scan-App) die Leistungsfähigkeit nach und nach ausgebaut hat und damit schließlich in den Kernmarkt der etablierten Anbieter (hier die Scanner-Hersteller) eingedrungen ist.

In einem etablierten Markt liegt die Leistung eines Produkts in einem bestimmten Intervall und steigt mit der Zeit durch evolutionäre Entwicklung. In einem disruptiven Szenario kann ein neuer Wettbewerber mit zunächst weniger leistungsfähigen Produkten für einen „unteren“ Markt in den etablierten Markt eindringen. Entwickelt er sein Produkt mit geringerem Ressourceneinsatz, in kürzerer Zeit oder mit anderen strategischen Vorteilen, kann er etablierte Anbieter verdrängen (Abb. 1, nach Christensen).

Momentan ist das für das Beispiel Scannen zwar nicht abzusehen, aber dieser Fall stellt ein frühes Muster einer disruptiven Innovation im Sinne von Clayton Christensen dar [1]. Ein Hersteller leistungsfähiger Scanner ist also gut beraten, die Entwicklung der genannten minderwertigen Alternativen genau zu beobachten oder sogar mitzugehen – auch ohne nennenswerten Profit.

Nicht ernst zu nehmende Konkurrenz ernst nehmen

Daraus lässt sich der erste Tipp ableiten, wie man über den Tellerrand schauen kann: Er beginnt mit dem Auftauchen neuer Produkte oder Dienstleistungen auf dem Markt. Sie erfüllen im Prinzip das Leistungsversprechen einer etablierten Firma, jedoch auf einem geringeren Leistungsniveau und für eine Zielgruppe, die niedrigere Ansprüche stellt. In so einem Moment empfiehlt es sich, die neuen Angebote mindestens zu beobachten oder eigene gleichwertige Produkte oder Dienstleistungen zu entwickeln. Die wesentlichen betriebswirtschaftlichen Kennzahlen (Produktpreis, Umsatz, Bruttogewinnmarge und so weiter) liegen oft deutlich unter dem Niveau der etablierten Produkte. Davon darf man sich nicht abhalten lassen, wenn man eine disruptive Entwicklung zuverlässig ausschließen will. Kurz gesagt: Man sollte auch nicht ernst zu nehmende Konkurrenz ernst nehmen.

Wenn man als etabliertes Unternehmen selbst ein derartiges Produkt entwickeln möchte, stellt sich ein Problem: Innerhalb einer Firma, die bei den genannten Kennzahlen anderes gewöhnt ist, wird ein Projekt, das mit so niedrigen Werten operiert, nicht die erforderlichen Ressourcen bekommen. Konkret: Ein Scanner-Hersteller, der 300 Millionen Euro Umsatz mit seinen Business-Produkten macht, hat vermutlich kein Interesse daran, einen B2C-Markt mit einer eigenen Scan-App zu bedienen, die in den ersten Jahren ein paar Zehntausend Euro Umsatz erzielt.

Wie man über den Tellerrand schaut

Selbst wenn das Topmanagement sich dafür entscheidet, wird das Produkt in der eigenen Firma keinen leichten Stand haben. Die Mitarbeiter haben über Jahre ein Verständnis von Ressourcenzuteilung und erwarteten Margen aufgebaut, das es schwer macht, dieses „sinnlose Lieblingsprojekt des Managements“ dauerhaft am Leben zu erhalten. Warum sollte man für geringe Umsätze und Margen wertvolle Mitarbeiter, Zeit oder Geld einsetzen? Um das Vorhaben trotzdem erfolgreich realisieren zu können, hilft eine Kapselung, die das Neue vom Alten trennt. Die Trennung kann bis zur Ausgründung einer eigenen Gesellschaft für das scheinbar nachrangige Produkt gehen. Die früheren Artikel dieser Serie sind bereits auf das Thema Kapselung eingegangen.

Aber zurück zur Frage, wie man über den Tellerrand schauen kann. Das Beispiel der Scan-Apps scheint zunächst nicht verallgemeinerbar. Doch mit ein wenig Abstraktion wird klar, dass man daraus einiges lernen kann. Aus Sicht eines Scanner-Herstellers bedient eine Smartphone-App einen Markt „unterhalb“ des eigenen. Der Tellerrand ist hier also eine Marktgrenze. Betrachtet man weitere ähnliche Grenzen, finden sich viele Tellerränder, über die es sich zu schauen lohnt. Hier ein paar Ideen mit kurzen Beispielen:

1. Was passiert im Marktsegment unter dem eigenen? Diese Frage ist durch das Beispiel bereits illustriert; sie ist nur der Vollständigkeit halber aufgeführt.