iX 11/2021
S. 3
Editorial
November 2021

Digital abgehängt?

Bei Soft- und Hardwareherstellern, Cloud-Anbietern, digitalen Medien, eigentlich der ganzen IT-Branche in Europa sieht es nicht gut aus. Apple alleine ist mehr wert als alle Unternehmen des aufgebohrten DAX40 zusammen, inklusive SAP, unserem digitalen Vorzeigeunternehmen. Die Digitalisierung betrifft alle Branchen, Wertschöpfung verschiebt sich zu denen, die die Werkzeuge bereitstellen. Die digitalen Plattformen übernehmen den Endkundenkontakt und bestimmen die Preise der Hersteller und Lieferanten. Wer seine Digitalisierungswerkzeuge nicht beherrscht, wird beherrscht. Die Plattformen transportieren auch kulturelle Werte, stülpen sie den Benutzern über, definieren das Wirtschafts- und Gesellschaftsklima.

Dass die Werkzeuge nicht aus Europa kommen, muss dabei nicht unbedingt ein Problem sein. Solange die Anbieter vertrauenswürdige, transparente Dienste und Geräte anbieten, die dem lokalen Rechtsraum und ethischen Ansprüchen genügen und keine Hintertüren haben, wäre es eigentlich egal. Aber leider herrscht wenig Transparenz und Rechtssicherheit. Proprietäre, geschlossene Systeme, vergossene Hardware ohne Baupläne, US Cloud Act und, na ja, China – alles nicht vertrauensbildend.

Unsere Werte, wie das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen (Souveränität), die Nachvollziehbarkeit (Wissenschaft), der Schutz vor Missbrauch (Demokratie), müssen sich in unseren digitalen Werkzeugen wiederfinden! Das Software-Pendant zur Transparenz der wissenschaftlichen Methode ist Open Source (und Open Hardware). Das Pendant zur Demokratie sind föderierte IT-Systeme ohne Zutrittskontrolle durch ein Unternehmen – sie stellen letztlich die notwendige Souveränität und Transparenz her.

Im direkten Vergleich jedoch sind derzeit die (wenigen) lokalen Angebote nicht so leistungsfähig wie die der Weltmarktführer. Digitale Geschäftsmodelle sind selbstverstärkende „Winner takes it all“-Systeme. Wir sind spät dran. Zu spät?

Die USA und China machen vor, wie es geht: Ist das Problem einmal erkannt, werden mit öffentlichen Geldern Projekte finanziert und Produkte eingekauft, die die gewünschten Ziele im Auge haben. Als Präsident Eisenhower 1957 unter dem Sputnik-Schock realisierte, dass die USA beim Wettlauf um den Weltraum weit hinten liegen, gründete er die DARPA, die mit großen Schecks, der Einkaufspower des Verteidigungsministeriums und der frisch gegründeten NASA das Silicon Valley startete, das Internet erfand. Zwölf Jahre später waren sie die Ersten auf dem Mond – und haben ganz nebenbei die disruptivste Branche der letzten 70 Jahre geschaffen.

Machen wir es genauso. Wenn wir Transparenz und Offenheit fordern, dann sollten wir auch nur noch solche Systeme kaufen. Wenn wir so regulieren, beispielsweise im digitalen Verbraucherschutz, werden auch nur die Angebote erlaubt sein, die sich daran halten. Dass sich Investitionen in Open Source auch volkswirtschaftlich auszahlen, zeigt eine aktuelle Studie für die Europäische Kommission (ix.de/z1xy). Wenn wir folgerichtig jetzt unser Geld dahin geben, wo unsere Werte sind, besteht mit Sicherheit noch eine Chance für eine freie, digitale, europäische Marktwirtschaft.

PS: Im Bund wird gerade überlegt, ob man die „Souveräne Bundescloud“ von Microsoft kauft. Das ist, als hätte Eisenhower einen Sputnik bei Chruschtschow bestellt, statt DARPA und NASA zu gründen.

Rafael Laguna de la Vera

ist Direktor der Bundesagentur für Sprunginnovationen SPRIND.

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