150 Jahre Continental: Dreck, Licht und lange Schatten

Seite 2: Lernen in Partnerschaft

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Ganz im Geiste dieser Weltoffenheit kooperierte Continental nach dem Ersten Weltkrieg mit Goodrich. Eine Zusammenarbeit, die wegen des Krieges nicht stattfinden konnte. Die US-Amerikaner bekamen ein Viertel der Continental-Aktien und halfen dafür bei der Beschaffung der Rohstoffe. Außerdem teilten die Firmen ihre Forschungsergebnisse, sowohl was die Formeln für die Reifen als auch die Arbeitsweise betraf. Continental konnte viel im Bereich der Fließbandfertigung und der Qualitätsüberwachung lernen.

Im Zweiten Weltkrieg buhlt Continental skrupellos um die Gunst der deutschen Kriegstreiber. Das Management wirft Konkurrenten vor, nicht arisch genug zu sein. Dazu entwickelt die Firma von sich aus neue Produkte für die Soldaten. Tragriemen und Patronengurte aus Gummi, Verschlusskappen für die Geschütze ... das Regime belohnt Continental mit reichlich Aufträgen und den benötigten Zwangsarbeitern, die auch gleichzeitig zu Versuchskaninchen werden.

Einer der grausamsten Vorgänge sind die Testläufe für die Gummisohlen der Soldatenstiefel. KZ-Insassen aus Sachsenhausen müssen bei jedem Wetter und jeder Temperatur zu Todesmärschen antreten. Wer zusammenbricht, wird erschossen. Auf Werbebannern vor den Continentalwerken prangern Sprüche wie "Die Schaffenden dieses Betriebes kämpfen mit Adolf Hitler für den Weltfrieden". Das brutale Vorgehen gegen die Zwangsarbeiter in den Produktionshallen rechtfertigte ein damaliger Manager einmal mit den Worten "Wenn sie tot sind, gibt’s neue." Die Menschen wurden mit Vieh verglichen und so behandelt.

150 Jahre Continental II (5 Bilder)

Nach dem Zweiten Weltkrieg lag auch das Continental-Werk in Hannover in Trümmern.

Dass all das bekannt ist, verdankt die Öffentlichkeit Continental selbst. Das Unternehmen hatte eine Aufarbeitung seiner Nazi-Vergangenheit in Auftrag gegeben und nach deren Fertigstellung im Jahr 2020 veröffentlicht. Ganze vierzig, beziehungsweise dreißig Jahre nachdem Volkswagen, Bayer und Daimler ähnliche Studien veröffentlicht hatten.

Dazu kommt, dass Continental, wie die gesamte deutsche Wirtschaft, aus den Erkenntnissen aus dieser Zeit kaum Konsequenzen zieht. Jahrelang sträubte sich das Who-is-Who der deutschen Wirtschaft, Entschädigungen zu zahlen. Erst eine Sammelklage in den USA baute so viel Druck auf die Kriegsprofiteure auf, dass im Jahr 2000 die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" ins Leben gerufen wurde. Die deutsche Regierung und betroffene Unternehmen zahlten insgesamt 5,2 Milliarden Euro ein – überlebende KZ-Insassen bekamen 7600 Euro, Zwangsarbeiter 2500 Euro.

Continental hat wohl auch deswegen in diesem Jahr das Siegmund-Seligmann-Stipendium ausgerufen. Die Firma fördert damit Nachwuchs-Historiker, die sich mit der Unternehmensgeschichte beschäftigen wollen, mit insgesamt 50.000 Euro über zwei Jahre. Es ist ein erster Schritt.

Der Weg in die aktuelle Moderne begann für Continental in den 1990er-Jahren. In den Jahrzehnten zuvor verlor das Unternehmen zunehmend den Anschluss auf dem Reifenmarkt. Vor allem Michelin luchste dem Konzern dank überlegener Produkte schmerzhaft viele Marktanteile ab. Im Jahr 1995 gründete Continental daraufhin den Bereich Continental Automotive Systems (CAS) und entwickelte dort unter anderem Fahrassistenzsysteme, ESP und diverse Sensoren für Fahrzeuge. Durch Zukäufe machte die Continental AG die Sparte zu einer Cashcow. Höhepunkt war die Übernahme von Siemens VDO für 11,4 Milliarden Euro im Jahr 2007.

Für den Reifenhersteller ein Geschäftszweig mit Historie. Denn bereits im Jahr 1968 hatte Continental ein selbstfahrendes Auto vorgestellt. Damals hatten die Ingenieure einen Mercedes-Benz 250 Automatik (Baureihe W115 "Strich-Acht") mit elektro-mechanischer Lenkung, Gasregulierung und einer Funkeinrichtung für Messwert-Rückmeldungen ausgestattet. Sensoren im Auto erkannten das Magnetfeld eines Leitdrahts, der im Fahrbahnbelag verbaut war. In Zusammenarbeit mit den Technischen Universitäten München und Darmstadt hatte Continental damit auf der Teststrecke Contidrom in der Lüneburger Heide ein "Geisterauto" fahren lassen, wie es die Presse damals nannte.

Zu seinem 150-jährigen Jubiläum steht die Continental AG vor einem massiven Umbruch. Die Antriebstechnik-Sparte hat der Konzern ausgegliedert und als Vitesco an die Börse gebracht. Börsenwert nach dem ersten Handelstag: rund 2,5 Milliarden Euro. Dazu kommen deutlich schmerzhaftere Schritte. Von den weltweit rund 193.000 Mitarbeitern sollen sich 23.000 "verändern", wie es das Management ausdrückt.

Das bedeutet: Umschulung oder Arbeitslosigkeit. Werke werden geschlossen. Der Konzern bereitet sich auf eine Zeit vor, in der Verbrennungsmotoren eine immer kleinere Rolle spielen werden. "Transformation 2019-2029" nennt Continental seine Strategie und baut den Elektronik- und Software-Bereich aus. Selbst Reifen sollen mit Sensoren "smart" werden. Die Kürzungen, die Kündigungen, der Umbau. All das sei "sehr bitter", sagte Nikolai Setzer, Vorstandsvorsitzender der Continental AG, der Süddeutschen Zeitung. Aber Continental ist nun mal dort, wo es weh tut. Das war schon früher so.

(fpi)